BESCHNEIDUNGSDEBATTE - MUSLIMFEINDLICHKEIT

16-08-2024

Beschneidungsdebatte

Ende 2010 nahm ein in Köln niedergelassener Allgemeinmediziner eine Vorhautbeschneidung bei einem vierjährigen Jungen auf Wunsch seiner muslimischen Eltern vor. Der Eingriff fand in der Praxis des Arztes statt, der die Wunde vernähte und zusätzlich bei einem anschließenden Hausbesuch versorgte. Zwei Tage nach der OP setzten dennoch Nachblutungen ein, sodass die Mutter ihren Sohn zur weiteren Versorgung ins Krankenhaus brachte. Aufgrund einer Sprachbarriere kam es dort zu Verständigungsproblemen und der Verdacht einer nicht fachgerechten Durchführung der Beschneidung kam auf. Im Aufnahmebogen der Uniklinik Köln wurde vermerkt, dass der Junge „in einer Wohnung mit einer Schere ohne Anästhesie“ (Musharbash 2012) beschnitten worden sei. Die eingeschaltete Polizei informierte die Staatsanwaltschaft, die wiederum Anklage wegen des Verdachts auf Körperverletzung erhob (vgl. Çetin/Wolter 2012: 3). Im September 2011 sprach das Amtsgericht Köln den angeklagten Arzt frei, da die Zirkumzision fachgerecht und nach medizinischen Standards erfolgt sei. Gegen das Urteil legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Am 7. Mai 2012 urteilte das Landgericht Köln, dass es sich bei der Beschneidung um Körperverletzung gehandelt habe, und argumentierte, dass eine medizinisch nicht notwendige Beschneidung rechtswidrig sei. Auch wenn die Beschneidung religiös motiviert sei und auf Wunsch der Eltern vorgenommen werde, dürften Eltern nicht die Beschneidung ihres einwilligungsunfähigen Sohnes verfügen, da dabei der Körper des Kindes „dauerhaft und irreparabel verändert“ werde. Das Wohl des Kindes sei in diesem Fall höher zu bewerten als das Recht der Eltern auf Religionsfreiheit und ihr elterliches Erziehungsrecht.

Das Urteil selbst erlangte erst Wochen später durch einen Zeitungsartikel öffentliche Aufmerksamkeit, löste in der Folgezeit aber eine heftige, Monate andauernde Kontroverse aus. In kürzester Zeit kam es in diversen Medien zu einer Fülle an Beiträgen zu religiös motivierten Beschneidungen, bei der rechtliche, religiöse, medizinische und politische Argumente teilweise mit großer Vehemenz und Emotionalität vorgebracht wurden. Immerhin ging es dabei, so könnte man anführen, um die grundsätzliche Frage, welche Freiheiten Religion und religiöse Praxis beanspruchen dürfen bzw. welche Grenzen ihnen gesetzt werden müssen. Auffällig ist dennoch, dass verschiedene journalistische Beiträge und auch Wortmeldungen von Wissenschaftler*innen von Polemik getragen waren, während die unzähligen Kommentare und Meinungsäußerungen von Leser*innen oft gar feindselig und mitunter hasserfüllt waren (vgl. Widmann 2012: 219–227; Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2018: 245–251). Bekannt ist dieser Duktus bereits aus verschiedenen ‚Integrationsdebatten‘, die sich vornehmlich um die vermeintliche Unvereinbarkeit des Islams und damit auch von Muslim*innen mit westlich-säkularen Gesellschaften drehen. Die Debatten folgen jeweils der Vorstellung einer binären Gegensätzlichkeit zwischen einem archaischen, rückständigen und barbarischen Islam einerseits und einem modernen, fortschrittlichen und zivilisierten ‚Westen‘ andererseits. Wiederkehrend wird dabei öffentlich die Modernisierungsfähigkeit und damit die gesellschaftliche Zugehörigkeit von Muslim*innen infrage gestellt (vgl. Karadeniz 2021: 19–21).

Neu war, dass sich in der sogenannten Beschneidungsdebatte dieser Ansatz hin zu einer mutmaßlich allgemeinen Religionskritik erweiterte. Solche religiösen Rituale, so der Tenor, seien grausam und gehörten in eine fremde und barbarische Welt von gestern und nicht in die hiesige, wissenschaftlich aufgeklärte Sphäre (vgl. Bielefeldt 2012b: 2). Die unter dem Deckmantel der Aufklärung vorgetragene Kritik richtete sich zunächst gegen die religiöse Praxis von Muslim*innen, betraf aber auch Jüdinnen und Juden. Und die meldeten sich alsbald öffentlichkeitswirksam zu Wort. Die Konferenz Europäischer Rabbiner bezeichnete das Kölner Urteil zur Beschneidung gut zwei Wochen nach Bekanntwerden „als schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust“ (Dernbach 2012) und ihr Präsident fügte an: „Ein Verbot der Beschneidung stellt die Existenz der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland infrage. Sollte das Urteil Bestand haben, sehe ich für die Juden in Deutschland keine Zukunft.“ (Ebd.) Auch angesichts von über 1,4 Milliarden beschnittenen Männern weltweit, von deren Beschneidungen etwas mehr als 60 Prozent religiös begründet sind (vgl. Morris et al. 2016), erzeugten das Urteil und die Debatte internationale Aufmerksamkeit. Durch die historische Verantwortung Deutschlands für die Schoa erhielten sie zudem eine neue politische Dimension. Der Bundesaußenminister sorgte sich um das Ansehen Deutschlands und kritisierte, dass das Kölner Urteil „international Irritationen ausgelöst“ (DER SPIEGEL online 2012a) habe. Er forderte: „Es muss klar sein, dass Deutschland ein weltoffenes und tolerantes Land ist, in dem Religionsfreiheit fest verankert ist und in dem religiöse Traditionen wie die Beschneidung als Ausdruck religiöser Vielfalt geschützt sind.“ (Ebd.) Die Bundeskanzlerin mahnte, Deutschland dürfe nicht das einzige Land sein, in dem Jüdinnen und Juden nicht ihre Riten ausüben dürften: „Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation.“ (DER SPIEGEL online 2012b) Dass das Urteil auch Muslim*innen betraf, ließ sie derweil unerwähnt.
 

Die Debatte führte nicht nur zu empörten Reaktionen bei Vertreter*innen jüdischer und muslimischer Organisationen, es kam auch zu Solidarisierungen untereinander und zu gemeinsamen Protestaufrufen. Unterstützung kam zudem von christlicher Seite, die in dem Verbot einen schwerwiegenden Eingriff in die Religionsfreiheit und in das Erziehungsrecht der Eltern sah. Anders als bei früheren ‚Integrationsdebatten‘ wurde die Beschneidungsdebatte relativ schnell von politischer Seite eingedämmt. Das Bemühen der Bundesregierung, die entstandene Rechtsunsicherheit zeitnah gesetzgeberisch zu schließen und einen Rechtsfrieden herzustellen, wurde jedoch von zahlreichen Seiten als „politischer Schnellschuss“ angeprangert. Zu den populistischen und kulturkämpferischen öffentlichen Zuspitzungen kam nun insbesondere in Internetforen noch eine antisemitische Verschwörungsrhetorik hinzu, nach der die Abgeordneten des Bundestags unter „jüdischem Druck“ stünden (vgl. Ionescu 2018: 289–311). Dessen ungeachtet verabschiedete der Deutsche Bundestag im Dezember 2012 ein Gesetz, das die Beschneidung männlicher Kinder weitgehend legitimiert.
 

Wie eine Studie der Universität Oxford zeigen konnte, wirkte sich die deutsche Beschneidungsdebatte von 2012 gleichermaßen negativ auf Muslim*innen wie auf Jüdinnen und Juden aus. Dennoch gab es einen wesentlichen Unterschied in der Wahrnehmung. Während die jüdische Bevölkerung bisher historisch bedingt aufgrund der Schoa selten im Fokus von religionsfeindlichen oder -kritischen bundesdeutschen öffentlichen Diskursen stand, war dies für Muslim*innen bereits gelebte Normalität. Entsprechend stellte der „Wandel des gesellschaftlichen Klimas und der Debattenkultur“ für Jüdinnen und Juden eine Zäsur im deutsch-jüdischen Verhältnis dar, durch die sie laut der Studie starke Verunsicherungen erlebten und ihr bisheriges Zugehörigkeitsgefühl infrage gestellt sahen. Für Muslim*innen stellte die Debatte hingegen eine Kontinuität zu den rassistischen und antimuslimischen Diskursen der Post-9/11-Ära dar (vgl. Öktem 2013: 43).

Auch mit einigem Abstand kann die Debatte als herausfordernd erachtet werden. Durch sie waren verschiedene Grund- und Menschenrechte, wie die Religionsfreiheit, das elterliche Sorgerecht und das Recht des Kindes auf körperliche und seelische Unversehrtheit, betroffen. Wahrscheinlich handelte es sich dabei tatsächlich um einen Konflikt, der in unserem Rechtsstaat nicht eindeutig geklärt werden kann, sodass die präsentierte Lösung zur Wahrung des sozialen Friedens sinnvoll war. Besondere Brisanz lag aber auch deshalb in der Beschneidungsdebatte, weil in ihr die Grundfrage nach dem Stellenwert von Religion in einer säkularen Rechtsordnung enthalten ist. Und eben diese Frage steht wiederkehrend, mehr oder weniger offen, bei Debatten über religiöse Minderheiten im Raum. Ein Grund liegt in dem „Versuch, eigene emotionale Vorbehalte zu rationalisieren“ (Pollack 2012). Darüber hinaus werden dominanzgesellschaftliche Standpunkte und ihr historisches Gewordensein in solchen Debatten wenig reflektiert. Viele Kritiker*innen verorten sich auf einem säkularen Boden, von dem aus sie einen universellen Geltungsanspruch für ihre vermeintlich neutralen Argumente beanspruchen. Weder das christlich geprägte Verständnis von Säkularität noch ein in Abgrenzung dazu entstandenes atheistisches Weltbild werden kritisch reflektiert. Stattdessen werden, einem sehr spezifisch christlich-europäischen Verständnis folgend, nach welchem Religion ein klar umrissener Platz in der Gesellschaft zugewiesen ist, Ansprüche an religiöse Minderheiten formuliert (vgl. Amir-Moazami 2021).

 

Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
Bundesministerin des Innern und für Heimat


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