14-08-2024
Muslimfeindlichkeit ist ein Phänomen, das sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen äußert – sei es in der Politik, in der Justiz, im kulturellen Bereich oder in der Medienberichterstattung. Deutlich wird dies nicht zuletzt in öffentlichen Diskursen, in denen islambezogene Debatten für die Gesamtgesellschaft sichtbar werden. Dabei ist es der öffentliche Raum, der eine entscheidende Rolle in jeder Demokratie spielt. Öffentliche Diskurse liefern Informationen, aber sie können durch eine undifferenzierte Darstellung auch polarisieren. Sie tragen maßgeblich zur Meinungsbildung bei und beeinflussen damit nicht nur die Gesellschaftsmitglieder und ihr Zusammenleben, sondern auch das politische System und dessen Entwicklung.
Im Folgenden rekonstruiert der UEM neun öffentliche Debatten, die von muslimfeindlicher Rhetorik gekennzeichnet sind. Dabei handelt es sich nicht um einen vollständigen Überblick aller relevanten Islamdebatten. Vielmehr geht es darum, bestehende muslimfeindliche Diskurse anhand von konkreten Beispielen zu analysieren. Den ausgewählten Fallbeispielen ist gemein, dass sie den Islam in einem besonders negativen Themenkontext präsentieren. Dieser Negativfokus ist auch das diskursive Problem einer Islamkritik (vgl. Unterkapitel ↗ 2.6), die zwar oft wichtige Kritik äußert, dabei jedoch problemfixiert bleibt und zudem häufig von denselben Autor*innen und Medien vorgebracht wird.
4.1 Debatte über das Kopftuch (Hijab)
Seit über zwei Jahrzehnten erleben wir eine zum Teil hoch emotional geführte und polarisierende Debatte um das Kopftuch (Hijab) muslimischer Frauen. Sie geht zumeist über das konkrete Thema hinaus und ist verknüpft mit grundlegenden Fragen zum Verhältnis von Politik und Religion, Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität sowie kultureller Identität und ‚Integration‘ einer als fremd und teilweise bedrohlich empfundenen Religion. Einen ersten Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen, als eine muslimische Lehrerin einforderte, im öffentlichen Schuldienst den Hijab tragen zu dürfen. Ein gerichtlicher Weg über alle Instanzen folgte und endete schließlich mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts am 24. September 2003,29 in dem die vom Oberschulamt Stuttgart gegen eine Hijab tragende Lehramtskandidatin vorgebrachten Ausschlussgründe zur Einstellung in den Schuldienst für nicht zureichend erklärt wurden. Anschließend bemühten sich die Landesparlamente um gesetzliche Regelungen. Acht von ihnen erließen zwischen 2004 und 2006 Gesetze, die das Tragen eines Hijabs im Schuldienst verbieten. 2015 urteilte das Bundesverfassungsgericht im Sinne der positiven Religionsfreiheit und entschied, dass das pauschale Verbot religiöser Kleidung verfassungswidrig sei.
Die ‚Kopftuchdebatte‘ verläuft nicht entlang bestimmter parteipolitischer Lager, sondern zieht sich durch Parteien, Kirchen und die gesellschaftliche Mitte. Am Hijab hat sich in ganz Deutschland eine kontroverse, oft undifferenziert ausgetragene Stellvertreterdebatte entfacht, in der es eigentlich um Fragen der Integration, Geschlechterdiskurse und Säkularität geht. Bei den abwertenden oder zumindest wenig differenzierten Argumentationsmustern gegen den Hijab wird mitunter angenommen, dass „die muslimische Frau“ bzw. ihre Religion und Kultur rückständiger und weniger emanzipiert seien, sodass durch ihre Einbindung ein Rückfall in die „eigene Vergangenheit“ drohe (Opratko 2019: 225; Boos-Niazy 2022: 12–16).
So werden Muslim*innen bzw. ihre Religion mit dem Stigma des bedrohlich Fremden versehen, misstrauisch beobachtet und kommentiert, sie werden der Integrationsverweigerung sowie der Unterwanderung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bezichtigt, sodass Diskriminierungen gegen Muslim*innen legitim erscheinen (vgl. Attia/Keskinkılıç/Okcu 2021):
„Im Bedrohungsszenario des islamistischen Terrorismus werden [als] Muslim:innen [Markierte] ihrer tatsächlichen oder zugeschriebenen Religion, Kultur und Herkunft nach als spezifische Problemgruppe ins öffentliche, politische, wissenschaftliche und pädagogische Visier genommen und unter Aufsicht gestellt. Das Bedrohungsszenario mündet in Politiken der Kriminalisierung, Verdächtigung und Überwachung von [als] Muslimin:innen [Markierten] als potentielle Gefährder.“ (Ebd.: 18)
In den Argumentationsmustern gegen den Hijab lässt sich feststellen, dass Hijab tragende Frauen einerseits als fremd und gefährlich wahrgenommen und andererseits zu Opfern von per se patriarchalischen und unterdrückenden Verhältnissen stilisiert werden – und paradoxerweise diese auch legitimieren wollen würden. Muslim*innen werden anhand bestimmter (zugeschriebener) Merkmale wie Fluchthintergrund, Geschlecht, Hautfarbe, Religion bzw. Kultur hierarchisiert und homogenisiert. Je nach Positionierung wird ihnen ein unterschiedliches Maß an Anerkennung, Wertschätzung und Handlungsmöglichkeiten zugestanden. Die grundlegende Unterscheidungsform beruht auf der Gegenüberstellung eines natio-ethno-kulturellen ‚Wir‘ und ‚Ihr‘,30 welche durch gesellschaftliche und strukturelle Praktiken aufrechterhalten werden. Die entsprechenden Zuschreibungs- und Ausgrenzungspraktiken führen zu sozialer Ungleichheit und Benachteiligung einzelner Individuen und Gruppen auf intrapersoneller, struktureller, kultureller und institutioneller Ebene (vgl. Benbrahim 2019: 3).
So wird durch die Fremdzuschreibung des Hijabs als Symbol von nicht mit der Verfassung zu vereinbarenden Werten angenommen, dass Hijab tragende Frauen nicht die gleichen Werte teilen, nicht in die Gesellschaft passen und daher auch nicht die gleichen Rechte für sich reklamieren können – womit ihren berechtigten Ansprüchen die Legitimität entzogen wird (vgl. Rommelspacher 2010: 451; Boos-Niazy 2022: 29).
Auch wenn es mittlerweile unter Einbeziehung rassismuskritischer Perspektiven gelingt, unbewusste Voreingenommenheit („unconcious biases“) gegenüber dem Hijab sowie Muslim*innen zu thematisieren, erreichen diese Gegennarrative kaum die öffentliche Wahrnehmung. Stattdessen halten sich in der Mitte der Gesellschaft hartnäckig und breitflächig stereotype Wahrnehmungen des Hijabs.
Dass Frauen mit Hijab als einheitliche Gruppe konstruiert und angesprochen werden, gilt auch für die Thematisierung und Kritik, die sie durch feministische Organisationen erfahren. Die prominentesten Beispiele sind der Frauenrechtsverein TERRE DES FEMMES (2006) und das feministische Magazin Emma, deren Kritik an patriarchalen Strukturen bei Muslim*innen in besonders verschärfter Art und Weise stattfindet. Dabei werden Kontextualisierungen wie unterschiedliche religiöse oder kulturelle Praktiken und Sozialisierungen, muslimische Vielfalt sowie die Community bzw. Gemeindezugehörigkeit (z. B. Ahmadiyya, Alevit*innen, Sunnit*innen, Schiit*innen sowie verschiedene Strömungen innerhalb der diversen Gemeinden etc.) nicht berücksichtigt und ausgeblendet. Das Ausblenden dieser variierenden Kontexte führt zur Pauschalisierung von Muslim*innen und stilisiert sie zu Opfern einer mutmaßlich von Männern dominierten Religionsgemeinschaft.
Seit 9/11 häufen sich die Angriffe auf Frauen und Mädchen mit Hijab. Dies hat mit dem Erstarken der Rechten zu tun sowie mit der Tatsache, dass antimuslimische Einstellungen größere gesellschaftliche Akzeptanz finden. Durch die veränderte Bedrohungswahrnehmung sind antimuslimisch-rassistische Argumentationen zunehmend anschlussfähig geworden und erfüllen eine Scharnierfunktion, wie die Leipziger Autoritarismus-Studie (Decker/Brähler 2020) der Heinrich-Böll-Stiftung belegt.
Die Vorstandsvorsitzende des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen, Gabriele Boos-Niazy, spricht von einer Verschärfung der Situation. Sie stellt fest, dass muslimische Frauen aufgrund der Sichtbarkeit ihrer religiösen Zugehörigkeit durch den Hijab bei öffentlichen Auseinandersetzungen schneller in die Schusslinie rassistischer und rechter Übergriffe geraten als muslimische Männer:
„Die derzeitige Zunahme von Übergriffen hängt für uns ganz klar mit einer breiten Erosion des Rechtsverständnisses zusammen. Wichtige gesellschaftliche Akteure machen es vor, weite Teile der Bevölkerung werden davon beeinflusst. So werden selbst von den Betroffenen manche Diskriminierungen als so normal empfunden, dass sie sie nicht mehr thematisieren.“ (Boos-Niazy in Köhler 2019)
Mit Blick auf die Diskurse um das Thema Hijab zeigt sich, wie massiv sich diese auf Betroffene in muslimischen Communitys auswirken. Zudem machen die immer wiederkehrenden ‚Kopftuchdebatten‘ deutlich, dass nicht nur die sozio-kulturelle Herkunft sowie religiöse Merkmale bzw. Zuschreibungen eine wichtige Rolle für die Mehrfachdiskriminierung von Musliminnen spielen, sondern auch das Merkmal Geschlecht (vgl. Weichselbaumer 2016: 108–110).
Muslimische Frauen mit Hijab und einem nicht-deutschen Nachnamen werden stark benachteiligt und haben trotz hoher Qualifikationen verhältnismäßig schlechte Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Bereits im Jahr 2010 weist die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (vgl. Frings 2010) auf die strukturelle Benachteiligung von Frauen mit Kopftuch hin. Nach der Studie von Weichselbaumer (2016) vom Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) müssen Frauen mit Hijab bei gleicher Eignung und Qualifikation viermal so viele Bewerbungen auf eine ausgeschriebene Arbeitsstelle verschicken wie Bewerberinnen ohne Migrationsgeschichte, bis sie eine Einladung zum Vorstellungsgespräch erhalten. Die Studie widerspricht auch der wiederkehrenden Phantomdebatte darüber, dass die Probleme von Musliminnen auf dem Arbeitsmarkt in einer geringen Qualifizierung begründet lägen. Stattdessen bestätigt sie, dass selbst hier aufgewachsene Bewerberinnen mit besten Deutschkenntnissen und in Deutschland erworbener Bildung und abgeschlossener Ausbildung mit erheblichen Benachteiligungen konfrontiert sind, wenn sie einen türkisch klingenden Namen haben – und noch dazu ein Bewerbungsfoto mit Hijab vorlegen.
Der Hijab dient häufig als Projektionsfläche für antimuslimische Einstellungen und wird von religionspolitischen Debatten über Säkularität überlagert. Dabei bedienen sich Teile der Medien, Gesellschaft und Politik klischeehafter und stereotyper Bilder. Die Projektionen reproduzieren das Bild der unterdrückten Hijabträgerin, die fundamentalistisch sei und insgeheim verfassungsfeindlich agiere, obwohl die Erfahrungen und Lebensweisen vieler Muslim*innen in Deutschland zeigen, dass der Glaube und emanzipatorisches Denken kein Widerspruch sein müssen.
Festzuhalten ist, dass das Pauschalverbot des Hijabs das Recht auf Selbstbestimmung und Religionsfreiheit von seinen Trägerinnen einschränkt und daher unverhältnismäßig erscheint. Zudem zeugen Argumente für ein ‚Kopftuchverbot‘ von einer Unkenntnis der Grundlagen eines säkularen Rechtsstaats (vgl. Unterkapitel ↗ 9.1.1). Die Religionsfreiheit ist „ein zentrales Menschenrecht, das nicht aufgrund eines zu eng verstandenen Konzepts staatlicher Neutralität beschränkt werden darf“ (Sacksofsky 2009: 290). Mehr noch stimmen Verbote hinsichtlich religiöser Bekleidungsgewohnheiten nicht mit einem inklusiven Gesellschaftsverständnis überein (vgl. Foroutan/Simon/Coskun 2019). Statt mehrfachdiskriminierten Muslim*innen Teilhabe zu erleichtern, werden sie in weiten Teilen der Öffentlichkeit und in anderen gesellschaftlichen Bereichen stigmatisiert. In den Debatten wird außer Acht gelassen, dass rassistische und rechtsextreme Gewalt besonders wegen der Sichtbarkeit eines Hjabs und als Frau of Color (vgl. Benbrahim 2021a: 56) gegen sie gerichtet wird. Antimuslimische Einstellungen werden häufig verharmlost, können aber für Betroffene z. T. zu massiven Gewalterfahrungen führen, im extremen Fall bis hin zum Tod wie im Fall von Marwa El-Sherbini. Die Signalwirkung dieser antimuslimisch motivierten Tat auf Hijab tragende Frauen bleibt bis heute präsent. Das Sicherheitsbedürfnis von Frauen mit Hijab wird nicht ausreichend wahr- und ernstgenommen. Eine Demokratie misst sich besonders daran, wie sie mit vulnerablen Gruppen bzw. Minderheiten umgeht und sie schützt.
Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
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