Muslimfeindlichkeit
30-08-2024
Debatte um den „politischen Islam(-ismus)“
Der demokratische Rechtsstaat und seine Gesellschaft werden von unterschiedlichen extremistischen Ideologien und ihren Vertreter*innen herausgefordert. Neben Rechts- und Linksextremismus sind auch Formen des religiös motivierten Extremismus eine Bedrohung. Bei Anwendung oder Propagierung von Gewalt ist dies offensichtlich. Bedrohlich für die Gesellschaft und insbesondere für die unmittelbar von extremistischen Aktivitäten Betroffenen sind aber auch schon die Durchsetzung eines ideologiegestützten Herrschaftsanspruchs und ein Hinwirken auf die Schwächung und Abschaffung demokratisch-rechtsstaatlicher Verhältnisse durch übermäßigen sozialen Druck, also durch den Missbrauch von eigenen Freiheitsrechten zu Lasten der Freiheitsrechte anderer (vgl. Rohe 2022c: 5).
Solche Probleme zeigen sich auch im Hinblick auf extremistische Akteur*innen innerhalb der muslimischen Bevölkerung. Die Thematik wird seit über zwei Jahrzehnten auch in Deutschland intensiv untersucht und diskutiert, mittlerweile meist unter dem nicht unproblematischen Begriff des „legalistischen Islamismus“. Zweifellos muss der Rechtsstaat seine demokratische und menschenrechtliche Ausrichtung verteidigen, dabei aber selbst stets rechtsstaatliche Prinzipien einhalten. Dazu zählen eine konkrete Problemerfassung und die faktenbasierte Bestimmung relevanter Akteur*innen primär anhand ihrer Haltungen und Taten.
Seit einigen Jahren ist indes eine Debatte über den „politischen Islam“ bzw. „politischen Islamismus“ entbrannt, die in erheblichen Teilen der medialen und politischen Diskussion jede problemorientierte Kontur verloren hat. So stigmatisiert sie weite Teile der muslimischen Bevölkerung und ihrer Organisationen und stellt sie unter Generalverdacht. Ein Beispiel sind die Reaktionen auf einen den rechtsstaatlichen Grundlagen entsprechenden Hinweis der Stadt Köln ohne konkreten Anlass aus dem Jahr 2021 (vgl. Rohe 2021).
Es handelt sich um eine Verlautbarung, wonach muslimische Gemeinden beantragen können, zum Hauptgebet am Freitagmittag – unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten und der Lautstärke – für fünf Minuten über Lautsprecher einen Gebetsruf erschallen zu lassen (vgl. z. B. Irmer 2022). In der anschließenden Debatte wurde dies zum Teil pauschal als „Triumph des politischen Islams“ gebrandmarkt, ohne dass auch nur ein konkreter Antrag vorlag. In der Konsequenz müssten verfassungsmäßig verbürgte Rechte – nämlich unter bestimmten Voraussetzungen öffentlich zum Gebet rufen zu dürfen – umstandslos aufgegeben werden, um Verfassungskonformität nachweisen zu können – eine bemerkenswerte Verdrehung rechtsstaatlicher Grundsätze. Dabei wurden auch inhaltlich und grammatikalisch falsche, bedrohlich wirkende Behauptungen über den Inhalt des Gebetsrufs verbreitet. „Allahu Akbar“ heißt nicht „Allah ist größer als alle Religionen, alle Feinde, alle Menschen“ (zitiert in Domradio 2021), sondern schlicht „Gott/Allah ist (unvergleichlich) groß“. Manche Äußerungen verdeutlichen, dass die pauschale Ablehnung der grundrechtlich geschützten islamischen Praxis entgegen Art. 4 Grundgesetz und Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention als Hebel gegen jede Religionsausübung im öffentlichen Raum genutzt wird (vgl. Domradio 2021 mit dem Zitat „auch Kirchenglocken seien ‚nicht mehr zeitgemäß im aufgeklärten Staat‘, und ‚im Schatten der Kirchen‘ wachse und gedeihe ‚der politische Islam‘“). Hier zeigen sich Überschneidungen zu Christentumsfeindlichkeit.
Das häufig vorgebrachte ‚Vergeltungsargument‘ – „Solange in Saudi-Arabien oder der Türkei keine Kirchen gebaut/Kirchenglocken geläutet werden dürfen, dürfen auch Muslime keinen hörbaren Muezzinruf ausführen“ – weist einerseits auf die beklagenswerte Lage der Religionsfreiheit in diesen Ländern hin. Andererseits macht es sich die Maßstäbe von Religionsdiktaturen bzw. von Staaten, in denen die Religionsfreiheit missachtet wird, zu eigen und verlässt damit rechtsstaatliches Denken. Daran zeigt sich beispielhaft (vgl. Kapitel ↗ 9.1 bzw. Statistiken aus Bertelsmann-Religionsmonitor), dass die Aufklärung über die Reichweite der Religionsfreiheit gerade auch für Minderheiten eine Aufgabe ist, welche die Gesamtgesellschaft betrifft.
Besonders problematisch sind derartige Debatten, wenn sie auf solche Weise von im demokratisch-rechtsstaatlichen Grundkonsens verankerten Beteiligten in zentralen Institutionen des Rechtsstaats geführt werden.
Exemplarisch hierfür steht ein Antrag der Fraktion von CDU/CSU: „Finanzierung des politischen Islamismus in Deutschland offenlegen und unterbinden“. Das im Grundsatz wichtige Anliegen, die Finanzierung von rechtsstaatsgefährdendem Extremismus zu unterbinden, wird durch die einseitige Fokussierung auf muslimische Organisationen ebenso konterkariert wie durch die Forderung, mit „den Moscheegemeinden vor Ort“ in einen Dialog über Transparenz in Finanzierungsfragen zu treten.
Die freundliche Formulierung („Dialog“) täuscht nicht darüber hinweg, dass damit ein genereller Verdacht formuliert wird, der nur im Einzelfall ausgeräumt werden kann. Dies widerspricht rechtsstaatlichen Grundsätzen: Der Gebrauch von Freiheitsrechten (Religionsausübung) ist die Regel und der – mögliche – Missbrauch solcher Rechte eine durch Fakten zu belegende Ausnahme. Grundannahme ist die Rechtstreue der Bewohner*innen des Landes, staatliche Intervention setzt zumindest einen faktenbasierten Anfangsverdacht voraus.
Generalisierende Verdächtigungen und das Herausgreifen einzelner Bevölkerungsgruppen bei der Bewältigung übergreifender Extremismusprobleme beeinträchtigen das Vertrauen in die rechtsstaatliche Neutralität und Gleichbehandlung. So wichtig es ist, die realen Gefährdungen effizient anzugehen, so wichtig ist die Vermeidung von Kollateralschäden. Existenzen und Entwicklungsmöglichkeiten von Muslim*innen wurden immer wieder durch falsche Verdächtigungen massiv beeinträchtigt (z. B. unbegründete Behinderungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt, Verweigerung beruflich notwendiger Einreisevisa).
In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung (vgl. ausführlicher Rohe, s. Fußnote ↗ 35): Es bedarf dringend der Abgrenzung zwischen problematischem Extremismus mit Herrschaftsanspruch einerseits und traditionellen, auch religiös begründeten Lebenshaltungen (z. B. bei religiös konnotierter Kleidung, Speisevorschriften oder Auffassungen zum Geschlechterverhältnis) ohne solchen Anspruch andererseits. Zwar mag man solche Haltungen inhaltlich, auch scharf, kritisieren. Allerdings dürfen Menschen nicht aufgrund einer traditionell orientierten Religiosität aus dem rechtsstaatlichen Konsens hinausdefiniert werden. Dies gilt im Übrigen auch für Jüdinnen und Juden, z. B. im Hinblick auf den Umgang der Geschlechter – ein Überschneidungsbereich zum Antisemitismus. Der zweite bedeutsame Aspekt betrifft die faktenorientierte Identifikation von Vertreter*innen des religiös motivierten Extremismus. Hier ist primär auf die vertretenen Inhalte zu achten, während eine Fokussierung auf Begegnungen („Kontaktschuld“) ohne nähere Informationen über die Hintergründe verfehlt ist. Für die Analyse von Inhalten bedarf es allerdings entsprechender Expertise, die bei manchen als Expert*innen gehandelten Aktivist*innen fehlt. Der Rechtsstaat muss sich effizient verteidigen, aber Menschen und den Rechtsstaat selbst gefährdende Kollateralschäden vermeiden.
Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
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