19-06-2024
Der Diskurs um Islamkritik
Ein weiteres Schlagwort im Diskurs über Islam und Muslim*innen ist das der Islamkritik. Zahlreiche Expert*innen werden im öffentlichen Diskurs als Islamkritik*innen bezeichnet, wenn sie Kritik an der Religion oder auch an bestimmten Ausprägungen wie dem Salafismus bzw. an der religiösen Praxis bestimmter Muslim*innen üben. Bei Islamkritik handelt es sich um einen vagen Begriff, denn was genau sie ausmacht, konnten bisherige Definitionsversuche weder abschließend noch allgemeingültig klären (vgl. u. a. Bade 2013; Schneiders 2012 und 2015; Schirrmacher 2022). Hinzu kommt, dass antimuslimische Aussagen jenseits konkreter Kritik im öffentlichen Diskurs jahrelang als Islamkritik gelabelt wurden. So etwa im Fall der Pegida-Bewegung (kurz für: Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes), die heute als rassistisch und rechtsextrem eingestuft wird, zunächst jedoch als „islamkritische“ Bewegung galt.14
Trotz der Vagheit des Begriffs Islamkritik kann die Zulässigkeit von Kritik an bestimmten islamisch legitimierten Ausdrucksformen oder Handlungen nicht verneint werden. In der bisherigen Forschung zu Islam- und Muslimfeindlichkeit sowie zu Antimuslimischem Rassismus ist dies noch nicht ausreichend thematisiert worden. Im Folgenden wird anhand von drei Mechanismen erörtert, welchen Kriterien Islamkritik unterliegt und inwiefern diese eine aufgeklärte religionskritische Auseinandersetzung mit dem Islam erschweren.
Pauschalisierung: Wie kann eine an Menschenrechten orientierte Kritik an islamisch artikulierten Handlungen aussehen, die gleichzeitig Pauschalurteile über ‚die Muslime‘, ihre Herabsetzung und Ausgrenzung oder eine Relativierung von realen Problemen vermeidet (vgl. Cheema 2020)? Für die Differenzierung zwischen einer Kritik am Islam und der Reproduktion von rassistischen Denkmustern braucht es die Definition der Grenze zwischen religionskritischer Aufklärung und einer kulturkämpferischen Spaltung der Gesellschaft (vgl. Bielefeldt 2011: 135). Eine polarisierende Kritik, die Pauschalisierungen nutzt und Individuen eine „unveränderliche kollektive Mentalität“ (ebd.: 141) zuschreibt, ist mit einer religionskritischen Auseinandersetzung nicht vereinbar. Pauschale Urteile über ‚die Muslime‘ und ‚den Islam‘ homogenisieren Muslim*innen und stellen sie unter Generalverdacht. Gewaltvolle Handlungen, die islamisch begründet werden – beispielsweise terroristische Anschläge, patriarchale Verhältnisse oder antisemitische Gewalt – sind dabei nicht zu relativieren, sondern müssen differenziert analysiert werden. Biskamp kritisiert, dass in der Forschung bis dato ein „binäres Bild vom Sprechen über Islam und Muslime“ (2016: 83) entstanden ist. Er bemängelt, dass die Problematisierung islamischer Gewalthandlungen wiederum zu pauschal als rassistische Zuschreibungspraxis delegitimiert wird. Grund dafür sei das gesellschaftspolitische Klima, in dem antimuslimische Ressentiments weit verbreitet sind. Sachorientierte und differenzierte Kritik muss folglich möglich sein.
Perspektiven: In öffentlichen Debatten ist wiederholt zu beobachten, dass Missstände in islamisch geprägten Gesellschaften ‚islamisiert‘ und damit fälschlich als unausweichliche Folge der Zugehörigkeit einer Bevölkerungsmehrheit zum Islam erklärt werden. Eine an Menschenrechten orientierte Perspektive definiert hingegen zunächst Probleme (z. B. patriarchalische Strukturen bzw. Haltungen und ihre Folgen) und wendet sich im zweiten Schritt den konkreten Akteur*innen bzw. ideologischen Begründungen für solche Phänomene zu. Mit dieser rechtsstaatsorientierten Perspektive werden willkürliche Zuschreibungen und eine Essenzialisierung des Islams bzw. von Muslim*innen vermieden. Das Beispiel patriarchalischer Strukturen macht deutlich, dass Islamkritik auch ohne pauschalisierende Aussagen den Gang ihrer Argumente und vor allem das Framing unbedingt im Blick behalten muss. Mit dem Islam verbundene Phänomene lassen sich in der Regel aus verschiedenen (theoretischen) Blickwinkeln interpretieren. Ein Religionsframe, der automatisch die Religion für alles negative verantwortlich macht (nach dem Motto: „Im Koran steht ja …“) greift zu kurz, um soziale Phänomene zu erklären. So sind beispielsweise soziale, ökonomische, politische oder psychologische Begründungen für ein und dasselbe Phänomen – z. B. auch für islamisch begründeten Terrorismus – in ihrer Vielfalt wichtig, um keine künstlich fundierte oder zumindest stark verkürzte Islamkritik zu praktizieren. Deutungs- und Perspektivenvielfalt in Form von Frames sind bei der Islamkritik unbedingt anzuraten, auch um eine globale interkulturelle Vergleichbarkeit zu sichern. Man spricht leicht von „islamischer Gewalt“; „christliche Gewalt“ hingegen erscheint für Phänomene wie die russisch-orthodoxe Begründung des Ukrainekrieges oder Gewalttaten von protestantischer und katholischer Seite in Irland nach wie vor absurd. Das Framing folgt in diesen Fällen ganz unterschiedlichen Logiken, unter denen die Perspektivenvielfalt leidet. Darüber hinaus wird eine rechsstaatswidrige Ungleichbehandlung gegebenenfalls gleicher Problemlagen für Staat und Gesellschaft erzeugt.
Pluralismus: Aus kommunikationstheoretischer Sicht muss außerdem das Ganze des islambezogenen Diskurses – z. B. in Medien und politischen Debatten – in den Blick genommen werden. Die individuelle Kritik an islamisch motivierten Verhältnissen ist legitim und wichtig, der Islamdiskurs als Ganzes kann aber durch selektive Wahrnehmung, ständige Wiederholung und einseitige Fokussierung auf bestimmte Kritikpunkte, die den Gegenstand der Kritik nicht in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen würdigt, wiederum in unangemessener Form generalisieren. Es ist verkürzt, die Realität einer Weltreligion und ihrer Gläubigen, die mehr als 1,5 Milliarden Menschen ausmachen, auf negative Assoziationen und Sachkontexte (Terrorismus, Frauenfeindlichkeit usw.) zu reduzieren, ohne eine gewisse Formen- und Lebensvielfalt (Volksreligiosität, theologische Varianten, säkularisierte Handlungspraxen usw.) zur Kenntnis zu nehmen (vgl. K. Hafez 2002b: 59–65). Die moderne Diskursanalyse beschäftigt sich mit diesen komplexen Abbildungsprozessen nicht nur in einzelnen Texten, sondern in ganzen Mediengattungen. Müller et al. (vgl. 2007) haben in diesem Zusammenhang zu Recht festgestellt, dass im Islamkontext Stereotype oft nicht mehr manifest formuliert werden („der fanatische Muslim“), dass sie aber „unterschwellig die Themenstruktur der Berichterstattung [steuern]“ (ebd.: 141). Diesen Vorgang wollen wir als „diskursstrukturelle Muslimfeindlichkeit“ bezeichnen.
Das Problem, das hier entsteht, ähnelt dem zwischen individuellem und Strukturellem bzw. Institutionellen Rassismus. Auch wenn eine einzelne Person eine bestimmte Kritik an einer islamisch motivierten Praxis vielfach zu Recht übt, ist sie Teil einer Diskursprägung, die in ihrer Gesamtheit einen generalisierenden Charakter trägt und damit rassistische Routinen ausprägen kann. Der Islam erscheint dann am Ende mehr als eine politische Ideologie und nicht als eine Religion mit diversen Lehren und Praxen. Es werden Bilder und Vorstellungen von Muslim*innen kolportiert, die sie entweder stigmatisieren oder viktimisieren. Dies bedeutet nicht, dass Islamkritik, die sich auf einen konkreten Gegenstand richtet, nicht richtig und wichtig wäre, sondern dass Pluralismus und Vielfältigkeit wichtige Leitgedanken bei der Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit sein sollten. Und es bedeutet, dass nicht nur einzelne Akteur*innen in einer Gesellschaft für Muslimfeindlichkeit verantwortlich sind, sondern Gatekeeper*innen in den Institutionen und die Institutionen als Ganzes in der Pflicht sind, denn nur sie haben den Überblick und den Einfluss, Diskursroutinen grundlegend zu ändern.
Die Übergänge zwischen Islamkritik und Muslimfeindlichkeit können zusammenfassend anhand der drei dargestellten Kriterien definiert werden.15 Kritik am Islam kann muslimfeindlich sein, wenn
1.eine Pauschalisierung erfolgt. Wenn beispielsweise bei Gewalttaten von Islamist*innen Muslim*innen pauschal unterstellt wird, gewalttägig und gefährlich zu sein.
2. Perspektiven eindimensional bleiben. Wenn eine sexistische oder homophobe Tat einer muslimischen Person (allein) mit ihrer religiösen Zugehörigkeit erklärt wird, während soziale, politische, historische und andere Problemlagen wie Erklärungsansätze nicht in Betracht gezogen werden.
3. Pluralismus ausgelassen wird. Wenn zwar nicht pauschalisiert wird und durchaus andere Erklärungsansätze für Gewalttaten herangezogen werden, der Diskurs aber insgesamt
von Negativschlagzeilen über den Islam und Muslim*innen dominiert wird. In diesem Fall ist die Kritik möglicherweise legitim, doch ist auch der Gesamtkontext zu betrachten: Werden die Vielfalt sowie andere Auslegungspraxen des Islams berücksichtigt?
Auf Grundlage der benannten Kriterien muss jeweils am konkreten Einzelfall entschieden werden, ob bestimmte Äußerungen über den Islam lediglich kritisch oder muslimfeindlich zu verstehen sind. Mit diesem 3-P-Test soll eine Hilfestellung gegeben werden, um Kritik am Islam von Muslimfeindlichkeit zu unterscheiden – und somit konkrete Aussagen differenziert analysieren und beurteilen zu können.
Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
Bundesministerin des Innern und für Heimat
14 Z. B. häufig in der ARD-Tagesschau, u. a. auch auf tagesschau.de im Interview mit dem ehemaligen Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Frank Richter am 15. Dezember 2014 (vgl. Richter 2014).
15 An dieser Stelle war der 3-D-Test des israelischen Politikers Natan Scharanski (vgl. 2004) über die Trennung von Kritik an Israel und Antisemitismus eine Inspiration für die Entwicklung eines Tools, welches bei der Trennung von Kritik am Islam und Muslimfeindlichkeit hilft. Scharanski geht davon aus, dass Antisemitismus unter dem Deckmantel der Kritik an Israel immer dann vorliegt, wenn eine Dämonisierung des Staates Israel angestrebt, ein Doppelstandard angelegt bzw. eine Delegitimierung Israels betrieben wird.
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