13-05-2020
Die Gesetzgebung im Islam und der Demokratie
Die Demokratie ist das Prinzip des Mehrheitsregierungssystems, so dass die Gesetzgebung sich nach der Mehrheit richtet. Darum erfolgt auch die Wahl des Herrschers, der Parlamentsabgeordneten und der Mitglieder in staatlichen Institutionen, Behörden und Ausschüssen nach dem Mehrheitsprinzip. Gleiches gilt für die Gesetzgebung in den Parlamenten und die Entscheidungen in den angesprochenen staatlichen Institutionen, Behörden und Ausschüssen. Auch dort erfolgt die Beschlussfassung nach dem Mehrheitsprinzip. Aufgrund dessen ist die Mehrheit in der Demokratie sowohl für Regierende als auch für Nichtregierende verbindlich. Denn die Mehrheit spiegelt den Volkswillen wider. Der Minderheit bleibt nichts Anderes übrig, als sich der Mehrheit und deren Meinung zu fügen und unterzuordnen.
Im Islam stellt sich die Angelegenheit jedoch ganz anders dar: So hängt die Gesetzgebung nicht von der Mehrheits- oder Minderheitsmeinung ab. Vielmehr richtet sie sich ausschließlich nach dem Koran und der Sunna. Denn der Gesetzgeber ist allein Allah und nicht die Umma. Und allein der Kalif hat die Befugnis zur verbindlichen Übernahme von Gesetzen, die zur Betreuung der Angelegenheiten der Menschen und zur Herrschaftspraktizierung erforderlich sind. Er entnimmt die Gesetze aus dem Koran und der Sunna durch richtigen Ijtihad[1] auf Basis der Stärke des Rechtsbelegs. Der Kalif ist nicht verpflichtet, die Meinung der Ratsversammlung (majlis al-umma) bei der bindenden Übernahme von Gesetzen (Gesetzesadoption) hinzuzuziehen, auch wenn er das Recht dazu hat. So haben die Rechtgeleiteten Kalifen den Rat der Prophetengefährten eingeholt, immer dann, wenn sie gewillt waren, Gesetze bindend zu übernehmen. Umar ibn Hattab beispielsweise zog die Muslime zur Rat, als er ein Gesetz bezüglich der neu eröffneten Ländereien der Levante (Scham - Syrien), Ägyptens und des Irak bindend übernehmen wollte. Sollte der Kalif die Ratsversammlung bei der Übernahme von Gesetzen zurate ziehen, so ist er keineswegs an die Entscheidung dieser Institution gebunden, auch wenn die Entscheidung einstimmig oder durch Mehrheit gefallen ist. So hat sich der Prophet (صلى الله عليه و سلم) die Meinung der Muslime, die sich gegen das Friedensabkommen von Hudaibiyya gestellt hatten, nicht gebeugt, obwohl es viele waren. Er wies ihre Meinung zurück, brachte das Abkommen zum Abschluss und sprach zu ihnen:
„Ich bin der Diener Allahs und Sein Gesandter und ich werde Seinem Befehl nicht zuwiderhandeln.“
Auch herrscht Konsens unter den Prophetengefährten, dass der Imam die Befugnis besitzt, bestimmte Gesetze verbindlich zu übernehmen und ihre Einhaltung und Praktizierung anzuordnen. Den Muslimen obliegt es, sich diesen Gesetzen zu fügen und ihre eigenen Meinungen hintenanzustellen. Daraus wurden auch die berühmten Rechtsregeln abgeleitet, wie z.B.: „Die Anordnung des Imams hebt jeden Disput auf“, „Die Anordnung des Imams ist im Ersichtlichen wie im Verborgenen vollzugspflichtig“ und „Der Machthaber hat das Recht, in dem Maße Rechtssprüche zu erlassen, wie Probleme aufkommen“. Darüber hinaus gebietet Allah (t) den Gehorsam gegenüber den Befehlshabern:
يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُوا أَطِيعُوا اللَّـهَ وَأَطِيعُوا الرَّسُولَ وَأُولِي الْأَمْرِ مِنكُمْ ۖ
„O die ihr glaubt, gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und den Befehlshabern unter euch! (…)“ (Der edle Koran 4:59)
Jene, die die Befehlsgewalt innehaben, sind die Herrscher. Wie die Gesetzgebung werden auch die fachlichen und intellektuellen Angelegenheiten behandelt, wo Erfahrung, geistige Auseinandersetzung und eine genaue Untersuchung notwendig ist. In diesem Bereich ist die Richtigkeit maßgeblich, nicht die Mehrheit und auch nicht die Minderheit. Deshalb werden dafür die entsprechenden Fachleute herangezogen, welche die Realität der Problematik genau begreifen. Bei militärischen Fragen werden Militärs, bei Rechtsfragen Rechtsgelehrte und Mujtahidun[2], bei medizinischen Themen Fachmediziner, bei technischen Problemen führende Ingenieure und bei intellektuellen Sachfragen führende intellektuelle Größen herangezogen. Die Liste kann beliebig fortgesetzt werden. Bei solchen Fragen ist also die Richtigkeit maßgebend und nicht die Mehrheit. Maßstab für die Richtigkeit in ihrer Präsumtion sind Kompetenz und Fachwissen. Diese sind bei Fachleuten zu finden und nicht bei der Mehrheit.
Auch ist zu bedenken, dass die Mitglieder der Abgeordnetenversammlungen, sei es bei Muslimen oder im Westen, generell keine Fachleute sind. Ihnen fehlt Wissen und Kompetenz in den erwähnten Sachfragen. Deshalb hat die mehrheitlich getroffene Übereinkunft der Mitglieder zu diesen Sachfragen keinen Mehrwert. Ihre Zustimmung oder Ablehnung ist formaler Natur und basiert keineswegs auf Erkenntnis und fundiertem Wissen. Dementsprechend ist die Mehrheitsentscheidung in solchen Belangen keineswegs bindend. Der Beweis hierfür ist einer Begebenheit mit dem Propheten (صلى الله عليه و سلم) zu entnehmen. So fügte sich der Prophet in der Schlacht von Badr der Meinung Hubab ibn Mundirs, der ein Experte in lagetaktischen Fragen war. Nachdem sich Hubab vergewissert hatte, dass die Wahl des Lagerplatzes durch den Propheten keine Offenbarung Allahs war, riet er ihm, den Platz zu verlassen, da er als Schlachtort nicht geeignet war. Der Prophet (صلى الله عليه و سلم) nahm seinen Ratschlag an und verlagerte seine Stellung zu dem von Hubab vorgeschlagenen Ort. Er ließ von seiner Meinung ab und beriet sich auch nicht mit seinen Gefährten.
Was die Angelegenheiten betrifft, die keines Denkaufwands, keiner größeren Sorgfalt und keiner genaueren Überlegung bedürfen, so wird dabei gemäß dem Mehrheitsvotum vorgegangen. Denn die Mehrheit ist durchaus in der Lage, solche Dinge zu verstehen und eine Meinung dazu gemäß ihrer Interessenssicht unschwer und in aller Leichtigkeit zu äußern. Zu diesem Bereich zählt beispielsweise die Frage, ob man diese oder jene Person wählen soll, ob man zu einer Reise aufbrechen soll oder nicht, ob man bei Tag oder bei Nacht reisen soll und ob man mit dem Flugzeug, der Fähre oder dem Zug zu reisen gedenkt. Diese und ähnliche Dinge kann jeder Mensch nachvollziehen und dazu eine Meinung äußern. Deshalb ist eine Mehrheitsentscheidung in diesen Fällen aussagekräftig, sie kann übernommen werden und ist letztendlich bindend. Den Beleg dafür finden wir in der Schlacht von Uḥud, als der Prophet (صلى الله عليه و سلم) und die großen Persönlichkeiten unter seinen Gefährten den Verbleib in Medina befürworteten. Demgegenüber forderte die Mehrheit der Gefährten, insbesondere die Jungen unter ihnen, auszurücken, um dem Stamm der Kuraysch außerhalb Medinas entgegenzutreten. Mit anderen Worten drehte es sich um die Frage, ob man aus Medina ausrücken soll oder nicht. Nachdem die Mehrheit für das Ausrücken war, fügte sich der Prophet (صلى الله عليه و سلم)ihrer Meinung, ließ von der Meinung der großen Gefährten ab und zog aus, um der Kuraysch in Uhud entgegenzutreten.
Die Gesetzgebung: Islam vs. Demokratie
Ist die Demokratie mit dem Islam vereinbar? Der fundamentale Gegensatz der Demokratie zum Islam besteht aus dem Ursprung. Der Ursprung stellt ganz klar den Widerspruch dieser beiden Religionen dar. Zudem kommt noch das Überzeugungsfundament; aus dem sie entstanden ist, die Grundlage; auf der sie aufgebaut ist, sowie die Ideen und Systeme; die sich aus ihr ergeben haben. Der Ursprung, dem die Demokratie entstammt, ist der Mensch. Es ist allein der Verstand des Menschen, der über die Handlungen und Dinge entscheidet und sie als lobenswert oder als verabscheuungswürdig definiert. Auf sein Urteilsvermögen wird alles zurückgeführt. Die Quelle dieser Entwicklung waren die europäischen Philosophen und Denker, die während der harten Auseinandersetzungen zwischen den religiösen Patriarchen und Königen Europas auf der einen Seite und den Völkern auf der anderen Seite in Erscheinung traten. Die Demokratie ist also von Menschen hervorgebracht worden. Die Entscheidungshoheit beim Erlassen von Gesetzen hat allein der Verstand des Menschen inne. Im Gegensatz dazu steht der Islam. Die Gesetzte des Islams (die Scharia) stammen von Allah, dem Gewaltigen, Der diese an Seinen Gesandten Muhammed (صلى الله عليه و سلم) offenbart hat. Allah sagt:
وَمَا يَنطِقُ عَنِ الْهَوَىٰ ﴿٣﴾ إِنْ هُوَ إِلَّا وَحْيٌ يُوحَىٰ ﴿٤﴾
„und er redet nicht aus (eigener) Neigung. Es ist nur eine Offenbarung, die eingegeben wird.“ (Der edle Koran 53:3-4)
إِنَّا أَنزَلْنَاهُ فِي لَيْلَةِ الْقَدْرِ ﴿١﴾
„Wir haben ihn ja in der Nacht der Bestimmung hinabgesandt.“ (Der edle Koran 97:1)
Die Entscheidungshoheit beim Erlassen von Gesetzen kommt dabei allein Allah zu, d.h. dem islamischen Recht, und nicht dem menschlichen Verstand. Die Aufgabe des Verstandes beschränkt sich darauf, die Verse, die von Allah offenbart wurden, zu verstehen:
إِنِ الْحُكْمُ إِلَّا لِلَّـهِ ۖ
„Das Urteil/die Entscheidung gehört allein Allah.“ (Der edle Koran 6:57)
فَإِن تَنَازَعْتُمْ فِي شَيْءٍ فَرُدُّوهُ إِلَى اللَّـهِ وَالرَّسُولِ
„(…) Wenn ihr miteinander über etwas streitet, dann bringt es vor Allah und den Gesandten. (…)“ (Der edle Koran 4:59)
وَمَا اخْتَلَفْتُمْ فِيهِ مِن شَيْءٍ فَحُكْمُهُ إِلَى اللَّـهِ ۚ
„Und worüber ihr auch immer uneinig seid, das Urteil darüber steht Allah (allein) zu. (…)“ (Der edle Koran 42:10)
[1] Bezeichnung für das Ableitungsverfahren von Rechtssprüchen aus den Koranversen.
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