DIE „KONTAKTSCHULD“-FRAGE - IM ZWEIFEL SCHULDIG

Antimuslimischer Rassismus und Muslimfeindlichkeit

10-09-2024

Die „Kontaktschuld“-Frage

In den vergangenen Jahren häuften sich Fälle, in denen Muslim*innen in der Öffentlichkeit eine bedenkliche Nähe zu islamistischen Gruppen oder eine entsprechende Gesinnung vorgeworfen worden ist. Den betreffenden Personen wird dabei zumeist unterstellt, dass sie Kontakte zu extremistischen Kreisen hätten oder ihnen eine kritische Distanz zu demokratiefeindlichen Positionen fehle. Dabei ist es oft irrelevant, welche Positionen die Person selbst vertritt – es reicht schon aus, zusammen mit bestimmten Personen dieser Gruppierungen öffentlich (z. B. auf einer Konferenz) gesehen zu werden. Die tatsächliche Qualität des Kontakts – ob es sich hierbei etwa um ein gezieltes oder zufälliges Zusammentreffen handelt, um eine flüchtige Begegnung oder eine dauerhafte und intensive Kooperation – wird zumeist nicht erörtert (vgl. zur damit verbundenen rechtsstaatlichen Problematik Rohe, Fußnote ↗ 35).

Die Beweisführung der „(Vor-)Verurteilung“ oder „Sippenhaftkonstruktionen“ (Eißler 2018: 371) sind häufig fraglich und gleichen gelegentlich einer öffentlichen Hetzjagd, an deren Ende Karrieren oder auch Existenzen zu Bruch gehen können. Dieser Vorgang wird als Kontaktschuld bezeichnet – ein „Pseudoargument“, welches „unliebsame oder verdächtig(t)e Personen durch Verknüpfung mit Personen, die in schlechtem Ruf (z. B. Verfassungsschutzbeobachtung) stehen, […] diskreditier[t] oder aus[grenzt]. Wer Kontakt (direkt, indirekt, auf Veranstaltungen, in Gesprächen) zu vermeintlichen Verfassungsfeinden hat, ist demnach selbst einer oder zumindest ein Sympathisant“ (ebd.: 371). Die Kontaktschuld-Annahme war als behördliches Instrument etwa während des Kalten Kriegs, z. B. in den USA zur Zeit der Verfolgung tatsächlicher und angeblicher Kommunist*innen unter Senator Joseph McCarthy, wirksam – und auch gerichtlich legitimiert (vgl. Perels 1998). Das sogenannte „Programm zur Überprüfung der politischen Zuverlässigkeit“ ersetzte damals das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung.

Eine solche Dimension besitzt die hiesige Problematik der gegenüber Muslim*innen vorgebrachten Kontaktschuld nicht. Die Kontaktschuld-Vorwürfe kommen häufig von sogenannten ‚Islamexpert *innen‘ (vgl. Kapitel ↗ 2.6; ↗ 7.1.5), die versuchen, muslimische Personen des öffentlichen Lebens zu inspizieren und eine ihnen unterstellte problematische Gesinnung aufzudecken (vgl. Schiffauer 2020). Dabei treffen sie Pauschalurteile und erzeugen über mediale Skandalisierung besondere Aufmerksamkeit. Nicht wenige von ihnen haben dabei kaum fundierte fachliche Expertise (vgl. Schneiders 2015). Verfassungsschutzämter und andere Stellen nutzen sie dennoch als wissenschaftliche Quellen. Dass Sicherheitsbehörden zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung potenziellen Gefahren nachgehen, ist ihr verfassungsgemäßer Auftrag, der auch aus der historischen Erfahrung des Niedergangs der Weimarer Republik abgeleitet ist. Jedoch erscheint es in jüngerer Vergangenheit so, als würde sich eine regelrechte Misstrauens- und Verdachtskultur gegenüber Muslim*innen (insbesondere jenen in exponierteren Positionen) etablieren. So kann der Kontakt zu einem Menschen, der Besuch einer Moschee, die Teilnahme an einer Veranstaltung oder der „Like“ auf einem Social-Media-Beitrag bereits ausreichen, um dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, Teil islamistischer Netzwerkstrukturen zu sein. Erst seit kurzer Zeit finden sich vereinzelte kritische journalistische Gegenstimmen, die das Problem der „selbst ernannten Muslimjäger“ (Gezer 2017) aufgreifen. wurde.47 Die Anschuldigungen wurden von der Biologin Sigrid Herrmann-Marschall vorgebracht, die seit mehreren Jahren einen Blog mit dem Namen Vorwärts und nicht vergessen betreibt. Ihre Vorwürfe führten zur vorläufigen Suspendierung der betroffenen Mitarbeitenden und einer Wiederholung bereits erfolgter Sicherheitsprüfungen. Herrmann-Marschalls Vorwürfe erwiesen sich im Nachgang als nicht haltbar. Die Einrichtung und ihre Arbeit erlitten einen immensen Vertrauensverlust und Imageschaden – nicht zuletzt, weil eine Richtigstellung der Vorwürfe öffentlich kaum beachtet wurde.

Herrmann-Marschall selbst bezeichnet sich auf ihrem Blog als „Islamismusexpertin“, trotz fehlender fachlicher Expertise oder relevanter Sprachkenntnisse. Herrmann-Marschall durchforscht unter anderem Social-Media-Profile von Muslim*innen mit dem Ziel, Muslim*innen Verbindungen zur Muslimbruderschaft, antisemitische Einstellungen und Unterwanderungsstrategien nachzuweisen. Ihre Nachforschungen haben dabei Mutmaßungscharakter und sind häufig bruchstückhaft und kontextlos: Person X „[…] kommt von einer Einrichtung, die der Muslimbruderschaft nahe steht“ (Blogeintrag 26.11.2019). Oder: „In der Moschee […] waren […] problematische Akteure aus dem Netzwerk der Muslimbruderschaft zu Gast“ (Blogeintrag 29.11.2020). Herrmann-Marschall ordnet ihre Beobachtungen realen Einzelpersonen und Einrichtungen zu und veröffentlicht diese regelmäßig. Das Format findet Anerkennung, wenn z. B. diese Vorwürfe in rechtskonservativen und islamfeindlichen Blogs wie Die Achse des Guten von Henryk M. Broder perpetuiert werden. Zudem erschienen sie in der vom Unternehmer Rafael Korenzecher herausgegebenen Jüdischen Rundschau, für die sie regelmäßig Beiträge Die SPIEGEL-Journalistin Gezer zeichnet nach, wie 2016 ein falscher Extremismus-Vorwurf gegen mehrere Mitarbeitende einer hessischen Beratungsstelle von seriösen Medien aufgegriffen verfasst. Dort wird auf die vermeintlichen „Aufdeckungen“ rekurriert oder es werden auf kuriose Weise diverse Muslim*innen des öffentlichen Lebens füreinander haftbar gemacht – dafür genügt es, mit einer verdächtigten Person auf einem Podium zu sitzen oder mit den ‚falschen‘ Personen in den sozialen Medien vernetzt zu sein. Besorgniserregend ist, dass auch Teile der seriösen Medienlandschaft derartige Nachforschungen aufgreifen und sie damit als zuverlässige Quelle aufwerten.

Die Deutsche Welle würdigte Herrmann-Marschall gar als „Islamismusberaterin“ (von Hein 2017), was in der WELT regelmäßig aufgegriffen wird (vgl. Leubecher 2021). Der konservative „Berliner Kreis“ der CDU lud sie zusammen mit dem ehemaligen Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen ein (vgl. Richter 12.05.2019). Auch im nordrhein-westfälischen Landtag war sie bereits als Sachverständige für die AfD eingeladen.

Eine weitere Recherche über unhaltbare Extremismusvorwürfe gegen Muslim*innen unternahm die Journalistin Ley. Sie beschreibt das Phänomen „Kontaktschuld“ als Dilemma: Einerseits gebe es die berechtigte Sorge vor Islamismus und andererseits die Gefahr, Muslim*innen vorschnell zu Extremist*innen zu erklären (vgl. Ley 2021). Auffällig ist, dass solche Kontaktschuldvorwürfe insbesondere gegen Muslim*innen gerichtet werden, die einen sozialen Aufstieg vollzogen bzw. eine exponierte gesellschaftliche Stellung erreicht haben. In ihrem Gespräch mit dem Ethnologen Schiffauer, der die Verdachtskultur gegenüber Muslim*innen seit Längerem wissenschaftlich beobachtet, wird deutlich, dass gerade diejenigen angegriffen werden, die „all das verkörpern, was die Mehrheitsgesellschaft so oft von Migranten fordert […], die hervorragend gebildet sind, sich politisch engagieren, einen kritischen Blick auf die eigene Community werfen“ (ebd.).

Ein solches Beispiel stellt der Fall einer Kölner Rechtsanwältin und Verbandsvertreterin dar, mit dem sich der Journalist Goldmann näher auseinandersetzte. Auch bei dieser Personalie handelte es sich um eine engagierte Muslimin, die als „Musterbeispiel einer ehrenamtlich engagierten Demokratin“ gelten könne (Goldmann 2020). Als sie 2020 zur Beraterin im Auswärtigen Amt berufen wurde, begann der Aufschrei zunächst in den sozialen Medien und verbreitete sich schnell. Sie habe in der Vergangenheit antisemitische Proteste verharmlost und vertrete einen Verband, der auch Extremist*innen in den eigenen Reihen dulde, so der Tenor (vgl. u. a. Monath 2020). So twitterte z. B. Volker Beck (Grüne), er verstehe nicht, warum das Amt „eine Vertreterin dieses problematischen Verbandes“ berufen habe (26.07.2020). Die Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen erklärte, der damalige Außenminister Heiko Maas mache sich im Kampf gegen Antisemitismus mit dieser Berufung unglaubwürdig (vgl. Monath 2020). Die damalige AfD-Vizevorsitzende Beatrix von Storch twitterte, die Berufung sei „der regierungsamtliche Kotau vor dem Islam“ (24.07.2020). Im rechtskonservativen Blog Tichys Einblick wurde die Frage aufgeworfen: „Warum holt Heiko Maas Graue Wölfe in das Auswärtige Amt?“ (22.07.2020). Und auch die EMMA polemisierte: „Auch MigrantInnen sind entsetzt, es hagelte parteiübergreifende Kritik. Wie konnte die Islamistin überhaupt nominiert werden?“ (2020). Die anschließende öffentliche Debatte ließ sachliche und differenzierte Auseinandersetzungen mit den Vorwürfen vermissen. Vielmehr entstand eine sich selbst bestätigende Erzählung und mediale Dynamik, aus der ein immenser öffentlicher Druck hervorging. So berichteten unter anderem Tagesspiegel, DIE WELT und Deutschlandfunk über die Vorwürfe gegen die Muslimin (vgl. Monath 2020; DIE WELT 2020; Engelbrecht 2020). Wie wirkungsvoll diese Art der unbelegten Vorwürfe ist, zeigt sich daran, dass das Auswärtige Amt innerhalb von wenigen Tagen die Zusammenarbeit mit ihr zunächst vorerst ruhen ließ und letztlich insgesamt beendete.

Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist die Rolle großer Medienhäuser zu hinterfragen, wenn sie häufig und wiederholt über ungeprüfte Kontaktschuldvorwürfe berichten. Durch die Übernahme unbelegter Vorwürfe von Einzelpersonen, die zunächst etwa in privaten Blogs oder Lokalzeitungen schreiben, tragen sie mit ihrer Agenda-Setting-Funktion maßgeblich zu Skandalisierungen bei. So reicht es etwa aus, wenn große Medien – wie z. B. Tagesspiegel und DIE WELT es häufig tun – entsprechend berichten und sich andere Redaktionen bei ihrer Themenwahl daran orientieren („Intermedia-Agenda-Setting“).

Die skizzierten Fälle stehen exemplarisch für eine Reihe von Vorwürfen, die es in die öffentliche Debatte schafften. Jedoch gibt es auch Fälle mit ähnlichen Konsequenzen, die kaum öffentlich wahrgenommen wurden. Der SPIEGEL-Journalist Winter (2020) berichtete anonymisiert über den Fall eines muslimischen Wissenschaftlers in Sachsen. Aufgrund eines Artikels in der Lokalzeitung von 2007 geriet dieser ins Visier des Verfassungsschutzes. In dem Artikel wurde seine gelegentliche Tätigkeit als Vorbeter eines muslimischen Studentenvereins erwähnt. Der Verein, der mit Mitteln der Universität gefördert wurde, stand wiederum seit 1997 mit vager Begründung „um drei Ecken“ unter Beobachtung des Verfassungsschutzes:„Der Verein habe sich in einer Studentenzeitung als Zweig der Muslim Studenten Vereinigung in Deutschland vorgestellt. Diese gehöre der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland an. Und die wiederum sei auch wegen ihrer Nähe zur Muslimbruderschaft ‚Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes‘.“ (Ebd.)

Obwohl dem Wissenschaftler keinerlei extremistische Tendenzen nachgewiesen werden konnten, genügte seine Tätigkeit im Studentenverein, um eine „ideologische Nähe“ zu konstruieren. In der Folge wurde der Wissenschaftler aus seinen Anstellungen (mehrmals) entlassen und ihm wurde seitens der Universität ein Hausverbot erteilt. Der Verfassungsschutz räumt inzwischen ein, dass das Vorgehen gegen ihn teilweise rechtswidrig gewesen sei (vgl. ebd.).

Unbelegte Annahmen und Verunglimpfungen, die sich u. a. aus einer fehlenden Quellenkritik speisen, erfahren medial sowie von Behördenseite ein beunruhigendes Maß an Berücksichtigung und Akzeptanz. Mögliche Folgen für zu Unrecht Beschuldigte geraten dabei aus dem Blick. In das gesamtgesellschaftliche Klima gegenüber Muslim*innen hält eine Verdächtigungsbereitschaft Einzug, die das Zusammenleben unter Spannung setzt und die in ihrer Struktur als muslimfeindlich einzustufen ist. Ein gesellschaftlicher, in Teilen rassistisch genährter Angstzustand scheint als Legitimationsgrundlage für die Notwendigkeit grundlegender Skepsis gegenüber Muslim*innen und der Aushöhlung ihrer Grundrechte zu dienen. Die Journalistin Gezer (2017) wirft entsprechend pointiert die Frage auf: „Wie viel Muslim darf es sein? Wie viel verträgt dieses nervöse Land gerade?“ Sie geht selbst darauf ein und schiebt nach: „Die Antwort in diesen Tagen hieß: Nichts, nicht mal ihre Vorzeigemuslime von gestern.“ (Ebd.)

 

 

Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
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