Muslimfeindlichkeit
20-09-2024
Dimensionen von Antimuslimischem Rassismus
Die Vertreter*innen der Organisationen und Fachstellen berichten von einem hohen Maß an Rassismuserfahrungen unter Muslim*innen.
Das Spektrum reicht dabei von alltagsweltlichen Mikroaggressionen und verbalen Übergriffen bis hin zu tätlichen Angriffen. Neben dem öffentlichen Alltagsleben (Straße, öffentliche Verkehrsmittel, Einkaufsläden, Parkplätze etc.) finden Kontexte besondere Erwähnung, in denen sich die Betroffenen in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden, wie Schule, der Arbeits- und Wohnungsmarkt oder der Gesundheitsbereich.
Die verzeichneten Beratungs- und Diskriminierungsfälle an Schulen umfassen alle Facetten von AMR (vgl. Unterkapitel ↗ 6.3). Die Mehrzahl der Beschwerden gehe auf das Verhalten von Lehrkräften zurück. Es wird vermutet, dass an Schulen die Sichtbarkeit einer muslimischen Identität von Schüler*innen sowie Lehrer*innen tendenziell als Bedrohung des Schulfriedens wahrgenommen werde und daher eher unerwünscht sei.
„Aus den ADAS-Daten wird eine herausstechende Relevanz von Diskriminierung, die von Lehrkräften ausgeht, deutlich: 2021 waren bei 96 % der gemeldeten Diskriminierungsfälle Schüler*innen die Opfer. In weit über der Hälfte der Fälle, nämlich 72,5 %, ging dabei die Diskriminierung von der Schule selbst und hier im Wesentlichen von den Lehrkräften aus.“ (Aliyeh Yegane Arani, Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen (ADAS) bei LIFE – Bildung, Umwelt, Chancengleichheit)
Auch FAIR international – Federation against Injustice and Racism verzeichnet die meisten Beschwerden aus dem schulischen Bereich. Sie berichten davon, dass Schüler*innen vielfach als vermeintliche Repräsentant*innen des Islams oder der Muslim*innen allgemein angesprochen und genötigt werden, stellvertretend Auskunft zu erteilen und dabei auch Privates preiszugeben. Um sprachfähig zu sein und erlebten Abwertungen etwas entgegensetzen zu können, sehen sich viele Schüler*innen gezwungen, sich intensiver mit dem Islam auseinanderzusetzen.
Ein weiterer Kontext, in dem vielfach Diskriminierungserfahrungen gemacht würden, sei das Arbeitsleben, wo Muslim*innen abwertende Aussagen entgegengebracht werden. Bei Bewerbungsgesprächen würden Betroffene offen gefragt, ob sie bereit seien, im Arbeitskontext auf das Tragen eines Kopftuchs oder das Türkisch- bzw. Arabischsprechen zu verzichten.
„Vor allem sehen sich Betroffene dazu gezwungen, gut abzuwägen, ob sie bei einer Klage negative Konsequenzen an ihrem Arbeitsplatz oder in ihrer Schullaufbahn befürchten müssen.“ (Orgun Özcan, FAIR international – Federation against Injustice and Racism)
Nach dem Dafürhalten der befragten Vertreter*innen von Verbänden und Beratungsstellen wollen viele Vermieter*innen keine muslimischen Mieter*innen. Auf der Wohnungssuche reiche häufig bereits die Nennung des Namens für eine Absage. Auch städtische Wohnungsgesellschaften achteten darauf, dass nicht zu viele Migrant*innen oder Muslim*innen in einem Objekt unterkämen.
Das Gesundheitswesen wird als weiterer Bereich benannt, in dem Diskriminierungen von Muslim*innen registriert werden. Bei ärztlichen Behandlungen werden regelmäßig nicht-behandlungsrelevante, diskriminierende Fragen gestellt. Berichtet wird auch davon, dass Patient*innen sich bisweilen nicht von als muslimisch wahrgenommenen Ärzt*innen behandeln lassen wollen.
„Ein Arzt bekommt von seiner Patientin zu hören, ‚ich lasse mich doch nicht von einem Nafri schänden‘.“ (Engin Karahan, Mosaik Deutschland)
Kritisiert wird insbesondere die fatale Wirkung antimuslimischer gesellschaftlicher Diskurse. Politik und Medien schaffen laut den Interviewten pauschalisierende Bilder rückständiger, antisemitischer, sexistischer und queer-feindlicher Muslim*innen. Damit tragen die Institutionen zu einer ausgrenzenden gesellschaftlichen Kultur gegenüber Muslim*innen bei.
„Muslim*innen sowie muslimisch wahrgenommene Personen werden weiterhin als homogene Masse verstanden – also der Islam, der Muslim, die kopftuchtragende Frau – und dadurch mit Fremdzuschreibungen und Vorurteilen definiert, was zu einem defizitären
Weltbild auf muslimische Menschen führt.“ (Djalila Boukhari, Fachstelle #MehralsQueer)
Ein undifferenzierter und in Teilen verallgemeinernd diskreditierender Sprachgebrauch, etwa bei Aussagen politischer Spitzenpolitiker*innen, bei Pressemitteilungen der Polizeien oder in Landesverfassungsschutzberichten, schlägt sich gemäß dem Hearing auch in praktischen Ausgrenzungen und gesetzgeberischen Grenzziehungen gegenüber Muslim*innen nieder, beispielsweise bei der Novellierung des Gesetzes zum Erscheinungsbild von Beamt*innen. Der Umgang mit dem NSU-Komplex, dem rassistischen Anschlag in Hanau und rechtsextremen Chats innerhalb der Polizei hätten zudem das Vertrauen in staatliche Stellen massiv beeinträchtigt. Berichtet wird auch vom hohen Ausmaß an Anfeindungen in sozialen Netzwerken, die bisweilen sogar zum Rückzug und der Aufgabe von Social-Media-Accounts geführt haben.
Berichtet wird, dass repräsentative Orte für muslimisches Leben eine besondere Angriffsfläche darstellen. So gibt es wiederkehrende Angriffe auf Moscheen.
Die Kriminalitätsstatistik verzeichnet jährlich etwa 100 Angriffe (s. Unterkapitel ↗ 3.2.2). Die Häufigkeit von Übergriffen und die geringe Bedeutung, die ihnen vonseiten der Mehrheitsgesellschaft beigemessen wird, führt laut Zekeriya Altuğ von der DITIB auch bei den Betroffenen zu Resignationserscheinungen, sodass bei weniger drastischen Übergriffen kaum mehr Strafanzeigen gestellt würden.
„Seit 2015 analysiert die DITIB Moscheeangriffe und stellt dabei fest, dass eine eindeutige Korrelation zwischen negativer Berichterstattung und Moscheeübergriffen besteht. Etwa zwei Wochen nach einem negativen Medienecho über ein
konkretes Ereignis oder eine Diskussion über Muslim*innen steigen die Fallzahlen deutlich an“. (Zekeriya Altuğ, DITIB)
Eine massive Misstrauens- und Rechtfertigungskultur wird in Bezug auf muslimische Organisationen beklagt. Sobald sie gleichberechtigte Teilhabe einfordern, steht wiederkehrend die Frage im Raum, wie es bei ihnen um die freiheitlich-demokratischen Werte bestellt sei.
„Muslimischen Jugendlichen, die sich organisiert engagieren möchten, wird die Teilhabe unverhältnismäßig erschwert. Wir müssen den politischen Diskurs verändern, um muslimische Organisationen und Akteur*innen eine faire Chance zu geben, sich einbringen zu können.“ (Kofi OheneDokyi, Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie)
Als gravierend wurde im Rahmen des Hearings die Situation muslimischer Frauen mit Kopftuch beschrieben. Sie seien verstärkt muslimfeindlicher Gewalt ausgesetzt und ihnen gegenüber sei die Hemmschwelle besonders gering:
„Für kopftuchtragende Frauen ist es Alltag, dass sie im öffentlichen Raum angegriffen werden.“ (Lydia Nofal, Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland)
Berichtet wird zudem, dass viele Frauen Übergriffe und Beleidigungen nicht zur Anzeige bringen, sodass von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen wird (vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus 2023).
Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
Bundesministerin des Innern und für Heimat
Heute | 1712 |
Insgesamt | 4689880 |
Am meisten | 42997 |
Durchschnitt | 1753 |