12-12-2023
Die israelischen Streitkräfte haben eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber den katastrophalen Folgen ihrer anhaltenden Bombardierung des besetzten Gazastreifens für die Zivilbevölkerung gezeigt. Im Rahmen laufender Untersuchung von Verstößen gegen das Kriegsrecht hat Amnesty International zwei Vorfälle dokumentiert, bei denen bei israelischen Angriffen 46 Zivilist*innen, darunter 20 Kinder, getötet wurden. Das älteste Opfer war eine 80-jährige Frau und das jüngste ein drei Monate altes Baby. Diese Angriffe müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden.
Die Angriffe, die sich am 13. und 20. Oktober ereigneten, trafen ein Kirchengebäude, in dem Hunderte von vertriebenen Zivilpersonen in Gaza-Stadt Zuflucht gefunden hatten, und ein Haus im Flüchtlingslager al-Nuseirat im Zentrum von Gaza. Amnesty International hat diese Angriffe eingehend untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass es sich um wahllose Angriffe oder direkte Angriffe auf Zivilist*innen oder zivile Objekte handelt, die als Kriegsverbrechen untersucht werden müssen.
Amnesty International besuchte die Schauplätze der Angriffe, fotografierte die Folgen der Angriffe und befragte insgesamt 14 Personen, darunter neun Überlebende, zwei weitere Zeug*innen, eine*n Angehörige*n der Opfer und zwei Kirchenführer. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International analysierte Satellitenbilder und frei zugängliches audiovisuelles Material, um die Angriffe zu lokalisieren und zu verifizieren.
Die Organisation überprüfte auch einschlägige Erklärungen des israelischen Militärs und schickte am 30. Oktober Fragen an die Pressestelle des israelischen Militärs zum Angriff auf die Kirche und das Lager al-Nuseirat. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lag noch keine Antwort vor.
Die israelischen Behörden haben keine glaubwürdigen Beweise für die Gründe dieser Angriffe veröffentlicht, auch nicht für die angeblich vorhandenen militärischen Ziele. Im Gegenteil, im Fall der Bombardierung des Kirchengebäudes veröffentlichte das israelische Militär widersprüchliche Informationen, darunter ein Video, das später zurückgezogen wurde, und eine Erklärung, die es nicht belegen konnte. Die Recherchen von Amnesty International ergaben keine Hinweise darauf, dass die getroffenen Gebäude als militärische Ziele betrachtet werden könnten oder von Kämpfern genutzt wurden.
Diese Ergebnisse stützen sich auf eine frühere Dokumentation von Amnesty International über rechtswidrige israelische Angriffe während der gegenwärtigen Eskalation und auf Dokumentationen eines ähnlichen Musters rechtswidriger Angriffe während früherer Runden israelischer Operationen im Gazastreifen. Die derzeitige Bombardierung des Gazastreifens ist in ihrer Intensität, der Zahl der getöteten Zivilist*innen und dem Ausmaß der Zerstörung von Häusern, Schulen, Krankenhäusern und anderer ziviler Infrastruktur beispiellos.
"Mein Herz ist mit meinen Kindern gestorben"
Am 19. Oktober zerstörte ein israelischer Luftangriff ein Gebäude auf dem Gelände der griechisch-orthodoxen Kirche St. Porphyrius im Herzen der Altstadt von Gaza, in dem schätzungsweise 450 Binnenvertriebene der kleinen christlichen Gemeinde von Gaza Zuflucht gefunden hatten. Bei dem Angriff wurden 18 Zivilist*innen getötet und mindestens 12 weitere verletzt.
Ramez al-Sury, der bei dem Angriff seine drei Kinder und 10 weitere Verwandte verloren hat, sagte gegenüber Amnesty International: "Mein Herz ist an diesem Abend mit meinen Kindern gestorben. Alle meine Kinder wurden getötet: Majid, 11, Julie, 12, und Suhail, 14. Ich habe nichts mehr. Ich hätte mit meinen Kindern sterben sollen. Ich habe sie nur zwei Minuten vorher verlassen. Meine Schwester rief mich, ich solle in den Keller gehen, um meinem Vater zu helfen, der seit einem Schlaganfall bettlägerig ist... meine Kinder blieben im Zimmer mit meinen Cousins und deren Frauen und Kindern. In diesem Moment kam der Angriff und tötete alle. Wir verließen unsere Häuser und kamen in die Kirche, weil wir dachten, dass wir hier beschützt werden würden. Wir können nirgendwo anders hin... Die Kirche war voller friedlicher Menschen, nur friedliche Menschen... Während dieses Krieges ist man in Gaza nirgendwo sicher. Überall Bombardements, Tag und Nacht. Jeden Tag werden mehr und mehr Zivilisten getötet. Wir beten um Frieden, aber unsere Herzen sind gebrochen."
Sami Tarazi erzählte Amnesty International, dass seine Eltern Marwan und Nahed getötet wurden, ebenso wie seine sechs Monate alte Nichte Joelle und seine 80-jährige Verwandte Elaine.
Am 20. Oktober veröffentlichte das israelische Militär in den sozialen Medien ein von Amnesty International geprüftes und archiviertes Video von Drohnenaufnahmen, das den Moment des Luftangriffs auf ein Gebäude auf dem Kirchengelände zeigt. Mehrere Medien zitierten daraufhin eine Erklärung des israelischen Militärs, in der es hieß, dass "IDF-Kampfjets die Kommandozentrale eines Hamas-Terroristen getroffen haben, der am Abschuss von Raketen und Mörsergranaten auf Israel beteiligt war", und in der eingeräumt wurde, dass "eine Mauer einer Kirche in dem Gebiet beschädigt wurde", und in der versichert wurde, dass "der Vorfall untersucht wird".
Das israelische Militärvideo, das den Angriff zeigt, wurde jedoch inzwischen gelöscht, und weder das israelische Militär noch die Behörden haben Informationen vorgelegt, die die Behauptung untermauern, dass es sich bei dem zerstörten Kirchengebäude um ein "Kommando- und Kontrollzentrum" der Hamas handelte, noch weitere Informationen über die angebliche Überprüfung des Angriffs.
Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International untersuchte, verifizierte und verortete Videos und Bilder, die in sozialen Medien unmittelbar nach dem Angriff gepostet wurden, und analysierte Satellitenbilder des Ortes vor und nach dem Angriff - alle bestätigten die Zerstörung eines Gebäudes und die teilweise Zerstörung eines weiteren Gebäudes auf dem Kirchengelände. Ein Amnesty-Waffenexperte untersuchte auch das Video des Militärs und andere Bilder und kam zu dem Schluss, dass eine große, aus der Luft abgefeuerte Munition direkt in das Gebäude einschlug, in dem die Getöteten und Verletzten Schutz suchten.
Kirchenvertreter hatten öffentlich erklärt, dass sich dort vor dem Angriff Hunderte von Zivilist*innen aufhielten, so dass ihre Anwesenheit dem israelischen Militär bekannt gewesen sein muss. Die Entscheidung des israelischen Militärs, einen bekannten Kirchenkomplex und eine Zufluchtsstätte für vertriebene Zivilpersonen anzugreifen, war fahrlässig und stellt daher ein Kriegsverbrechen dar, auch wenn man davon ausging, dass sich in der Nähe ein militärisches Ziel befand.
"Ich werde für den Rest meines Lebens mit dieser Schuld leben"
Am 20. Oktober gegen 14.00 Uhr Ortszeit wurden 28 Zivilist*inen - darunter 12 Kinder - durch einen israelischen Luftangriff getötet, der das Haus der Familie al-Aydi zerstörte und zwei benachbarte Häuser im Flüchtlingslager al-Nuseirat im Zentrum des Gazastreifens schwer beschädigte. Das Flüchtlingslager liegt in dem Gebiet, in welches sich die Bewohner*innen des nördlichen Gazastreifens auf Anordnung des israelischen Militärs begeben sollten.
Rami al-Aydi, seine Frau Ranin und ihre drei Kinder - Ghina, 10, Maya, acht, und Iyad, sechs - wurden getötet. Zeina Abu Shehada und ihre beiden Kinder, Amir al-Aydi, vier, und Rakan al-Aydi, drei, wurden ebenfalls getötet, ebenso wie Zeinas zwei Schwestern und ihre Mutter.
Hani al-Aydi, der den Angriff überlebte, sagte gegenüber Amnesty International: "Wir saßen zu Hause, das Haus war voller Menschen, Kinder und Verwandter. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, stürzte alles über uns zusammen. Alle meine Brüder starben, meine Neffen, meine Nichten... Meine Mutter starb, meine Schwestern starben, unser Haus ist weg... Es gibt hier nichts mehr, und jetzt haben wir nichts mehr und sind vertrieben worden. Ich weiß nicht, wie viel schlimmer es noch werden kann. Kann es noch schlimmer werden?"
Unter den Opfern waren auch die Frau und die drei Töchter von Hazem Abu Shehada. Sie lebten im nahe gelegenen Flüchtlingslager al-Maghazi und haben im Lager al-Nuseirat Zuflucht gesucht. Hazen Abu Shehada sagte gegenüber Amnesty International: "Ich werde für den Rest meines Lebens mit dieser Schuld leben. Ich war es, der vorgeschlagen hat, dass sie vorübergehend dorthin ziehen. Ich wünschte, ich hätte das nicht getan, ich wünschte, ich könnte die Uhr zurückdrehen. Mir wäre es lieber, wir würden alle zusammen sterben, als meine Familie zu verlieren."
Der Angriff verursachte auch schwere Schäden und zerstörte die benachbarten Häuser der Familien al-Ashram und Abu Zarqa fast vollständig. Im Haus von Abu Zarqa wurden sechs Menschen getötet, darunter vier Kinder: die Schwestern Sondos, 12, und Areej, 11, sowie ihre Cousins Yara, 10, und Khamis Abu Tahoun, 12.
Die Untersuchung von Amnesty International ergab, dass alle Personen, die sich in dem direkt getroffenen al-Aydi-Haus und in den beiden benachbarten Häusern aufhielten, Zivilist*innen waren. Zwei Mitglieder der Familie al-Aydi besaßen eine Arbeitserlaubnis für Israel, die strenge Sicherheitskontrollen durch die israelischen Behörden für die Antragsteller*innen und ihre Familienangehörigen erfordert.
Satellitenbilder des Ortes bestätigen die Zerstörung - die auf einen Luftangriff zurückzuführen ist - zwischen dem 20. Oktober um 11:19 UTC und dem 21. Oktober um 08:22 UTC. Das Gebiet und viele der Gebäude scheinen erheblich beschädigt worden zu sein.
Humanitäres Völkerrecht
Die an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien müssen jederzeit zwischen Zivilist*innen und zivilen Objekten einerseits und Kämpfern und militärischen Zielen andererseits unterscheiden. Direkte Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte sind ebenso verboten wie wahllose Angriffe.
Wenn Israel ein militärisches Ziel angreift, ist es verpflichtet, alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um den Tod und die Verletzung von Zivilist*innen und die Beschädigung von zivilen Objekten zu vermeiden, auf jeden Fall aber zu minimieren. Zu diesen Vorsichtsmaßnahmen gehört es, alles Mögliche zu tun, um zu überprüfen, ob es sich bei einem Ziel um ein militärisches Ziel handelt; Angriffsmittel und -methoden zu wählen, die den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich halten; abzuschätzen, ob ein Angriff unverhältnismäßig wäre; eine wirksame Vorwarnung zu geben, wenn dies möglich ist; und einen Angriff abzubrechen, wenn sich herausstellt, dass er unrechtmäßig wäre.
Amnesty International fand keine Hinweise darauf, dass die beiden Angriffe auf militärische Ziele gerichtet waren oder dass es sich bei den Menschen in den Gebäuden um militärische Ziele handelte, was den Verdacht aufkommen lässt, dass es sich bei diesen Angriffen um direkte Angriffe auf Zivilpersonen oder zivile Objekte handelte.
Aber selbst wenn es in der Nähe eines der getroffenen Gebäude ein legitimes militärisches Ziel gegeben hätte, wurde bei diesen Angriffen nicht zwischen militärischen Zielen und zivilen Objekten unterschieden. Die von Amnesty International gesammelten Beweise deuten auch darauf hin, dass das israelische Militär es versäumt hat, mögliche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um den Schaden an Zivilist*innen und zivilem Eigentum so gering wie möglich zu halten, unter anderem dadurch, dass es vor den Angriffen keine Warnung - zumindest an die Bewohner*innen der getroffenen Orte - gab.
Wahllose Angriffe, bei denen Zivilpersonen getötet oder verletzt werden, stellen Kriegsverbrechen dar. Ein langjähriges Muster rücksichtsloser Angriffe, bei denen zivile Objekte getroffen werden, welches Amnesty International während der laufenden Angriffe Israels sowie während der Konflikte von 2008/2009, 2014 und 2021 dokumentiert hat, kann auf gezielte Angriffe gegen Zivilist*innen und zivile Objekte hinauslaufen, was ebenfalls ein Kriegsverbrechen darstellt.
Die extrem hohe Bevölkerungsdichte im Gazastreifen bringt zusätzliche Herausforderungen für alle Konfliktparteien mit sich. Die Hamas und andere bewaffnete Gruppen sind nach dem humanitären Völkerrecht verpflichtet, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, um Zivilist*innen vor den Auswirkungen von Angriffen zu schützen. Dazu gehört, dass sie es so weit wie möglich vermeiden, militärische Ziele in oder in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten zu platzieren.
Doch selbst wenn bewaffnete Gruppen ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, bleibt Israel an das humanitäre Völkerrecht gebunden, das unter anderem wahllose und unverhältnismäßige Angriffe verbietet.
Hintergrund
Amnesty International fordert einen sofortigen Waffenstillstand von allen Konfliktparteien, um weitere Verluste unter der Zivilbevölkerung zu verhindern und den Zugang zu Hilfsgütern für die Menschen in Gaza inmitten einer beispiellosen humanitären Katastrophe zu gewährleisten.
Amnesty International hat dokumentiert, wie die Hamas und andere bewaffnete Gruppen am 7. Oktober 2023 wahllos Raketen auf Israel abfeuerten und Kämpfer nach Israel schickten, die Kriegsverbrechen wie vorsätzliche Massentötungen von Zivilist*innen und Geiselnahmen begingen. Nach Angaben der israelischen Behörden befinden sich mindestens 239 Menschen, darunter 33 Kinder, als Geiseln der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen im Gazastreifen.
Die Organisation hat auch erdrückende Hinweise für Kriegsverbrechen der israelischen Streitkräfte im Rahmen ihrer Gaza-Offensive dokumentiert, einschließlich anderer wahlloser Angriffe, die zu massiven Opfern unter der Zivilbevölkerung führten, ganze Familien auslöschten und Wohnviertel zerstörten.
(Amnesty International)
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