16-07-2024
Muslimfeindliche Übergriffe und Diskriminierung
In den letzten Jahren haben sich verschiedene öffentlich geförderte Organisationen, Netzwerke und Meldestellen gegründet, die sich die Beratung und Stärkung von Anfeindungen und Diskriminierung Betroffener zum Ziel gesetzt haben. Dabei handelt es sich primär um Vorfälle, die in der Regel unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit liegen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS Bund) sowie die Einrichtungen auf Landesebene sind wichtige Anlauf- und Beschwerdestellen, die für alle Menschen mit Diskriminierungserfahrungen offenstehen. Des Weiteren gibt es verschiedene Initiativen und Organisationen, die sich gezielt an Betroffene von Muslimfeindlichkeit richten. Insofern sind die Dokumentationen dieser Organisationen eine wichtige Datenquelle. Zu beachten ist aber, dass ihre jährlichen Fall zahlen auf Beratungsanfragen seitens Betroffener basieren und somit nicht die tatsächliche Entwicklung von muslimfeindlichen Vorfällen abbilden können, sondern lediglich Aussagen über die Meldebereitschaft der Betroffenen zulassen.
3.3.1 Fallzahlen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Die ADS Bund unterteilt die Beratungsanfragen nach verschiedenen Diskriminierungsmotiven. Dabei handelt es sich um Diskriminierungserfahrungen, die in der Regel unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit liegen und sich größtenteils zwischen Privaten im Rahmen der durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geschützten Merkmale und Lebensbereiche abspielen. Laut dem Jahresbericht 2021 bezogen sich rund sieben Prozent aller Beratungsanfragen auf das Merkmal „Religion“ als Diskriminierungsmotiv. Dieser Anteil ist seit 2016 gleichbleibend. Eine auf Anfrage des UEM durchgeführte Auswertung der Anfragen zu Diskriminierung aufgrund der Religion und speziell in Bezug auf Muslime zeigt, dass seit 2010 jährlich zwischen 22 und 81 Anfragen gestellt werden, wobei zwischen 2020 und 2021 eine deutliche Zunahme zu verzeichnen ist: Die Zahl hat sich innerhalb eines Jahres nahezu verdoppelt und liegt erstmals bei 81 Fällen (s. ↗ Abb. 3.10). Inwiefern sich dies um einen Trend zunehmender Meldebereitschaft handelt, kann zu diesem Zeitpunkt nicht genauer beurteilt werden.
Fast jede Zweite der insgesamt 492 Beratungsanfragen zwischen 2010 und 2021 betreffen den Lebensbereich Arbeitsmarkt (s. ↗ Tab. 3.5): Beispielsweise verlangen private oder öffentliche Arbeitgeber*innen für den Antritt einer Beschäftigung oder einer Ausbildung das Ablegen des Kopftuchs. In anderen Fällen erhalten Frauen aufgrund ihres Kopftuchs erst gar keine Zusage, zum Beispiel zum Absolvieren eines Praktikums in Kindertagesstätten oder anderen Bildungseinrichtungen.
Daneben spielen sich viele Fälle im Bereich Dienstleistungen/private Verträge (12,6 %) ab: Ratsuchenden wird beispielsweise aufgrund ihrer Kleiderwahl (Burkini) oder wegen ihres Kopftuchs der Zutritt zum Schwimmbad oder Fitnessstudio verweigert. Drei Prozent der Fälle betreffen den Wohnungsmarkt: Ratsuchenden wird von Vermieter*innen oder der Hausverwaltung eine Absage erteilt, wenn eine Frau mit Kopftuch zur Wohnungsbesichtigung erscheint. Ebenso kommt es im Bildungsbereich – der nicht durch das AGG geregelt wird, sondern durch Landesrecht – häufiger zu Beschwerden (10,2 %; s. auch Kapitel ↗ 6). Ratsuchende werden zum Beispiel aufgrund ihres Kopftuchs vom Besuch des Unterrichts oder von der Schule ausgeschlossen oder erleben Mobbing durch Lehrkräfte bzw. Mitschüler*innen.
Außerdem spielt die muslimische Religionszugehörigkeit regelmäßig bei Diskriminierungserfahrungen durch Ämter und Behörden (5,5 %) sowie Justiz und Polizei (1,4 %) eine Rolle. Das fällt unter das öffentliche Recht und das Grundgesetz, aber nicht unter das AGG. Führerscheinbehörden verlangen etwa von Muslimas teilweise ein Lichtbild ohne Kopftuch oder eine Glaubhaftmachung der Religionszugehörigkeit. Gelegentlich sehen sich Ratsuchende zudem von Polizist*innen diskriminiert, weil sie muslimisch sind.
Darüber hinaus werden immer wieder Vorfälle außerhalb des Anwendungs- und Schutzbereichs des AGG im öffentlichen Raum (3,9 %), im Internet und auf sozialen Medien (2 %) sowie in Werbung und Medien (1,8 %) gemeldet. So werden Ratsuchende auf der Straße oder auf Online-Plattformen aufgrund ihres Kopftuchs beschimpft und beleidigt. Oder es geht darum, dass der Islam in der medialen Berichterstattung als „terroristisch“ inszeniert wird und Ratsuchende das als diskriminierend gegenüber Muslim*innen empfinden. Aufschlussreich wäre ein Abgleich dieser Zahlen mit den Beratungsanfragen bei den ADS auf Länderebene.
Betrachtet man alle Anfragen an die ADS Bund, so ist insgesamt eine Zunahme zu beobachten, die sich auf das Merkmal „ethnische Herkunft“ bezieht; die letzten fünf Jahre verzeichneten einen deutlichen Anstieg von 738 Fällen 2016 auf 2.080 im Jahr 2021. Genauere Erkenntnisse über die Anzahl antimuslimischer Fälle können diesen Zahlen nicht entnommen werden. Auch hier wäre es interessant, inwieweit es sich bei den Anfragen der Kategorie „ethnische Herkunft“ um Anfragen seitens Muslim*innen handelt. Wie bereits beschrieben, kommt es bei diesen Kategorien sowohl seitens der Betroffenen als auch seitens der Täter*innen zu Überschneidungen und Gleichsetzungen. Die Studie „Erhebung der der Schule ausgeschlossen oder erleben Mobbing durch Lehrkräfte bzw. Mitschüler*innen.
Zudem hat der Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ein Maßnahmenpaket beschlossen, indem auch ein Community-basiertes Monitoring zu Islam- und Muslimfeindlichkeit vorgesehen ist. Das Kompetenznetzwerk ist derzeit mit der Umsetzung dieser Aufgabe befasst und arbeitet an einer einheitlichen Datenerfassung der islam- und muslimfeindlichen Übergriffe (s. a. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration/Die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus 2023). Außerdem will das Netzwerk niedrigschwellige Meldemöglichkeiten für Betroffene schaffen. Ein sich in der Pilotphase befindendes Meldeportal „I Report“ von CLAIM ist seit Juni 2021 online. Ziel ist es, die Daten von verschiedenen Beratungsstellen einheitlich zu erfassen und zusammenzuführen. Über die Webseite www.i-report.eu/melden eingetragene Übergriffe und Diskriminierungen fließen zunächst in eine Datenbank und werden anschließend durch Fallzahlen von Beratungsstellen ergänzt und zusammengeführt.
Zu nennen ist auch der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG), der als weitere Organisation verschiedene Initiativen und Meldestellen zur Bearbeitung und Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit bündelt. Der VBRG ist ein bundesweites Netzwerk von Beratungsorganisationen, die sich Betroffenen rechter Gewalt widmen. Daher ist der Fokus hier weiter gefasst; Muslimfeindlichkeit wird als ein mögliches Motiv von rechter Gewalt adressiert – neben Antisemitismus und Rassismus im Allgemeinen. Derzeit sind 15 Beratungsstellen in 14 Bundesländern mit über 25 Anlaufstellen und Onlineberatung für Betroffene rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt im VBRG zusammengeschlossen. Neben der Professionalisierung der Opferberatung veröffentlicht der Verband jährlich Zahlen, statistische Erhebungen sowie Analysen zur Motivation der Täter*innen, zu den Hauptbetroffenengruppen, regionalen Besonderheiten sowie zum Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit rechter Gewalt. Der VBRG setzt sich dafür ein, dass das Monitoring der spezialisierten Beratungsstellen bundesweit verankert wird.
Somit sind die bisher vorliegenden Fallzahlen von NGOs wenig belastbar. Die steigenden Meldezahlen unter Muslim*innen können allenfalls als Ausdruck einer zunehmenden Sensibilisierung von Betroffenen gewertet werden, die teils auf die Beratungsarbeit der Organisationen zurückzuführen ist. Daher wird hier auf die Darstellung der Fallzahlen einzelner Organisationen verzichtet, da diese keine validen Aussagen zum tatsächlichen Ausmaß von Muslimfeindlichkeit erlauben und zudem aufgrund unterschiedlicher Erfassungspraxen schwer zu vergleichen sind.
3.4 Fazit
Um Muslimfeindlichkeit wirksam bekämpfen zu können, bedarf es zunächst fundierter Kenntnisse über das Ausmaß antimuslimischer Vorbehalte und Vorfälle sowie deren unterschiedliche Erscheinungsformen. Anhand von Daten aus wissenschaftlich überzeugenden repräsentativen Studien(-reihen), der polizeilichen Kriminalitätsstatistik sowie der Dokumentation von muslimfeindlichen Fällen seitens von Antidiskriminierungsstellen, Beratungsorganisationen und anderen NGOs konnten ein erstes Lagebild erstellt und Leerstellen identifiziert werden.
Repräsentative Studien zur Erfassung von unterschiedlichen Erscheinungsformen von Muslimfeindlichkeit sind rar; existierende Studien erheben Teilaspekte von Muslimfeindlichkeit häufig im Rahmen anderer Fragestellungen. Dennoch liefern einige renommierte Survey-Reihen über einen längeren Zeitraum belastbare Daten, die in der Zusammenschau wichtige Hinweise über das Ausmaß und die unterschiedlichen Facetten muslimfeindlicher Einstellungen in Deutschland geben. Aus ihnen wird deutlich, dass Muslimfeindlichkeit kein gesellschaftliches Randphänomen darstellt, sondern in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung verbreitet ist und sich seit vielen Jahren auf einem beständig hohen Niveau hält – abgesehen von leichten Schwankungen.
Etwa jede*r Zweite in Deutschland stimmt muslimfeindlichen Aussagen zu. Dabei kommt es zu Überschneidungen von verschiedenen Vorbehalten und Abwertungen, weil Muslim*innen zum einen als besonders ‚fremde‘ Zuwander*innen wahrgenommen werden und zum anderen als Angehörige einer angeblich ‚rückständigen‘ Religion. Im Zusammenhang mit migrationspolitischen Themen wird Muslim*innen eine mangelnde Integrationsfähigkeit unterstellt sowie die Neigung, sich angeblich bewusst abzugrenzen und Kontakte zu Andersgläubigen zu meiden. Im Zusammenhang mit religionsbezogenen Themen wird der Islam pauschal mit Gewalt, Extremismus und Rückständigkeit verknüpft und dementsprechend Muslim*innen eine Affinität zu Gewalt, Extremismus und patriarchalen Wertvorstellungen unterstellt.
Insofern sind Muslim*innen in doppelter Hinsicht von Stigmatisierung betroffen. Besonders problematisch ist die Gleichsetzung von muslimischer Frömmigkeit mit Fundamentalismus, die mit massiver Ablehnung religiöser Ausdrucksweisen von Muslim*innen einhergeht und sogar mit der Bereitschaft, Grundrechtseinschränkungen im Bereich der Religionsfreiheit für Muslim*innen zu befürworten und ihnen das Recht auf gleiche Teilhabe abzusprechen. Diese Vorbehalte mögen aus Unkenntnis entstehen und zunächst Ausdruck von Skepsis sein, ohne dass sich daraus automatisch bewusste Feindseligkeiten ableiten lassen. Sie bieten aber einen gefährlichen Nährboden und ein Einfallstor für antidemokratische Gruppierungen, die mit muslimfeindlichen Themen an die gesellschaftliche Mitte anknüpfen. Gerade in Regionen, in denen es an persönlichen Begegnungen mit Muslim*innen mangelt und dadurch kein Korrektiv zu verbreiteten Vorbehalten existiert, können diese ungehindert Raum greifen. Die Ergebnisse der gesichteten quantitativen Studien zeigen zudem, dass Muslimfeindlichkeit mit anderen Formen der Menschenfeindlichkeit zusammenhängt, d. h. dass Personen, die muslimfeindliche Einstellungen aufweisen, beispielsweise auch eher zu antisemitischen Haltungen tendieren. Hier zeigt sich sehr deutlich, dass Muslimfeindlichkeit nicht isoliert zu betrachten ist – auch wenn sie einer spezifischen Logik folgt –, sondern in ihrer menschenfeindlichen Dimension als Teil einer antidemokratischen Ideologie verstanden werden kann.
Die Einführung der gesonderten Erfassung „islamfeindlicher Straftaten“ in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik für politisch motivierte Kriminalität (PMK) ist ein wichtiger Meilenstein in der Beobachtung muslim- bzw. islamfeindlich motivierter Hasskriminalität. Sie weist aber auch einige Schwächen auf. Eine detaillierte Bewertung der Erfassungskriterien und-praxis konnte in diesem Bericht nicht vorgenommen werden. Erste Analysen liefern jedoch Hinweise, dass das genutzte Klassifikationssystem teils wenig trennscharf ist. Des Weiteren bedarf es ausgewiesener Kompetenzen der ermittelnden Beamt*innen, um eine Tat korrekt als „islamfeindlich“ einzustufen. Vor dem Hintergrund der noch geringen gesellschaftlichen Sensibilität in Bezug auf Muslimfeindlichkeit kann davon ausgegangen werden, dass diese Kompetenzen nicht immer gegeben sind. Hinzu kommt eine geringe Meldebereitschaft seitens der Betroffenen, sodass von einem hohen Dunkelfeld auszugehen ist. Trotz aller Schwächen ist die PMK-Statistik allerdings eine zuverlässige Datenerhebung auf einer breiten Informationsgrundlage, die eine wichtige Basis für die Ahndung von muslimfeindlichen Straftaten darstellt.
Neben der polizeilichen Kriminalitätsstatistik versuchen verschiedene Meldebehörden und NGOs durch eine Dokumentation entsprechender Fälle auch Hinweise auf das Ausmaß an Vorfällen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze zu liefern. Deren Validität ist jedoch schwer zu beurteilen. Aufgrund unterschiedlicher Erfassungslogiken sind sie wenig vergleichbar und können zudem lediglich Auskunft über die Entwicklung der Meldebereitschaft geben. Insofern sind diese Zahlen noch nicht in der Lage, ein tatsächliches Abbild der Realität zu zeichnen. Studien zufolge wird lediglich ca. jeder neunte bis zehnte Vorfall gemeldet. Dennoch können die gemeldeten Fälle Hinweise liefern, welche Lebensbereiche besonders stark von Muslimfeindlichkeit betroffen sind. Den Daten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zufolge betrifft das überwiegend Diskriminierungserfahrungen im Bereich Arbeitsmarkt.
Wichtig wären eine stärkere Zusammenarbeit der unterschiedlichen Stellen und zunehmende Bemühungen um eine bessere Vergleichbarkeit der Daten, um mehr Aufschluss über das Ausmaß an Muslimfeindlichkeit in Deutschland zu gewinnen. Um Aussagen über das Dunkelfeld und das tatsächliche Ausmaß von muslimfeindlicher Diskriminierung und Gewalt treffen zu können, sind jedoch repräsentative Studien unerlässlich. Nur so können Schlüsse über die gesellschaftliche Verbreitung von Muslimfeindlichkeit und Entwicklungen der Diskrepanz zwischen Hellfeld und Dunkelfeld gezogen werden.
Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
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