17-06-2024
Antimuslimischer Rassismus: Fokus auf institutionelle und strukturelle Ausgrenzungen
Vorbemerkung zum Rassismusbegriff
Der Begriff Rassismus ist vorbelastet, daher bedarf er zunächst einer Einordnung. Seine historischen Ursprünge gehen auf Ideologien und Praxen zurück, die Menschen hierarchisch entlang biologischer Merkmale in angebliche ‚Menschenrassen‘ unterteilten. In der Epoche des europäischen Kolonialismus und Imperialismus wurden u. a. Ausbeutung, Sklaverei, Assimilationspolitik und Genozide auf diese Weise gerechtfertigt. Auch den Verbrechen im Nationalsozialismus oder während der staatlichen Apartheid in Südafrika lagen rassistische Vorstellungen zugrunde. Lange Jahre wurde Rassismus in Deutschland vor allem mit derartigen Verbrechen gleichgesetzt.
Während sich in den letzten Jahrzehnten die wissenschaftliche Bedeutung des Begriffs hin zu kulturellen Dimensionen als zentraler Bestandteil rassistischer Ausgrenzungsmechanismen verändert hat, weckt er in weiten Teilen der Bevölkerung weiterhin v. a. Assoziationen mit rechtsextremen Gewalttaten. Die Verwendung des Begriffs und die Thematisierung von Rassismus lösen daher wiederkehrend Empörung und entschiedene Zurückweisung aus. Dabei wird zumeist davon ausgegangen, dass ein absichtsvolles Handeln bzw. eine verwerfliche oder gar boshafte Gesinnung vorliegen müssen.
In der Rassismusforschung wird jedoch mittlerweile unter Rassismus ein von Macht gekennzeichnetes soziales Verhältnis in unserer Gesellschaft verstanden: ein gesellschaftlicher „Prozess der Konstruktion von Bedeutungen“ (Miles 1989: 9),
der zur Legitimation sozialer Ausschließungspraxen von bestimmten Gruppen dient. Unter den gesellschaftlichen Bedingungen unterschiedlicher Chancen und Ressourcen finden Prozesse der Rassifizierung statt (Festlegung von vermeintlich natürlichen Gruppen und ihrer Beschaffenheit, vgl. Unterkapitel ↗ 2.1). Diese liefern Begründungen für die nachteiligen Lebensbedingungen der rassifizierten Gruppe und lassen sie dadurch legitim erscheinen.
Solche gesellschaftlichen Prozesse, in denen ‚Andere‘ erst sozial hergestellt werden und dann zwischen ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘ unterschieden wird, haben den Zweck, „Identität zu produzieren und Identifikationen abzusichern“ (Hall 1989: 919; vgl. a. Rommelspacher 1995). Sie sind jedoch nicht gleichzusetzen mit einem populären Verständnis
von Rassismus als beabsichtigte, zielgerichtete, unmittelbare rassistische Gewalt. Vielmehr ist damit ein System gesellschaftlich produzierten ‚rassistischen Wissens‘ gemeint, in das wir auf verschiedenen Ebenen involviert sind. Dieses System bringt laut Terkessidis einen „Apparat“ hervor, in dem sich diskriminatorische Praxis und Wissensbestände gegenseitig stützen (vgl. 2004: 100–109).
Antimuslimischer Rassismus
Das Konzept des Antimuslimischen Rassismus (AMR) zählt heute zu den maßgeblichen Ansätzen zur Erforschung von Muslimfeindlichkeit. Folgt man den einschlägigen Definitionen, so handelt es sich beim AMR um eine spezifische Form des Neo- bzw. Kulturrassismus, der sich dadurch auszeichnet, dass nicht mehr die Existenz verschiedener ‚Menschenrassen‘ und deren vermeintliche zivilisatorische Wertunterschiede behauptet werden, sondern die „Unaufhebbarkeit“ (Balibar 1992: 28) kultureller Differenzen. Nicht mehr biologische Faktoren, sondern „die Kultur und ihre determinierende Wirkung auf das Individuum [rücken] in den Mittelpunkt“ (Scherschel 2006: 42).
Attia zufolge setzt sich AMR aus den Komponenten Essenzialisierung und Dominanz zusammen, wobei erstere gleich mehrere Teilprozesse beschreibt: die Homogenisierung von Individuen zu Gruppen (,die‘ Muslim*innen), deren Polarisierung und Abgrenzung vom Eigenen (,wir‘ vs. ‚die Anderen‘) sowie die Naturalisierung bzw. Kulturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, deren historische, politische und soziale Bezüge dabei weitestgehend ausgeblendet werden (vgl. 2013: 7–8). Finden derartige Essenzialisierungen im Kontext gesellschaftlicher Machtbeziehungen statt, in denen die Privilegien der einen legitimiert und die Benachteiligungen der anderen verdeckt werden, tritt Rassismus als umfassendes gesellschaftliches Verhältnis in Erscheinung. Mit ihm entsteht, was Rommelspacher als Dominanzkultur bezeichnet – eine Gesellschaftsstruktur, in der „unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind“ (1995: 22).
Mit dem Konzept des Otherings (vgl. Said 1979) lässt sich zudem nachvollziehen, dass sich in antimuslimischen Fremdbildern immer auch umgedrehte Selbstwahrnehmungen spiegeln. Castro Varela und Dhawan sprechen hier von einem „komplexe[n] Prozess des Fremd- oder Different-Machens, der über eine dualistische Logik funktioniert, an dessen Ende ‚die Anderen‘ vis-à-vis dem ‚abendländischen Selbst‘ stehen“ (2007: 31).
Als Analysekonzept zeichnet sich AMR nun insbesondere durch drei Vorzüge aus: Erstens begreift es antimuslimische Diskriminierungen als ein mehrdimensionales und intersektionales Phänomen. Entsprechend lassen sich Erscheinungsformen antimuslimischer Diskriminierung auf individueller, diskursiver, institutioneller sowie struktureller Ebene erkennen und analysieren (vgl. Attia 2013: 6). Dabei treten subjektive Einstellungsmuster, mediale Repräsentationen des Islams, benachteiligende Handlungsroutinen in Institutionen sowie gesellschaftlich verankerte Machtdynamiken nicht nur als Einzelphänomene in Erscheinung. Vielmehr bilden sie ein Geflecht aus intersektionalen Beziehungen und gegenseitigen Verstärkungen, das erst in rassismustheoretischer Perspektive sichtbar wird. Für Rassismustheoretiker*innen lässt sich AMR daher auch nur als Komplex denken, in dem rassifizierende Wissenselemente – etwa Vorstellungen von Muslim*innen als Vertreter*innen einer gänzlich anderen Kultur – und ausgrenzende Handlungspraxen – etwa die Benachteiligung von muslimischen Personen auf dem Arbeitsmarkt – untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. Terkessidis 2004: 100–101).
Dem vorliegenden Bericht bietet das Konzept die Möglichkeit, die Entstehungsbedingungen von Muslimfeindlichkeit nicht lediglich innerhalb einzelner Subjekte, Bevölkerungsgruppen oder gesellschaftlicher Teilsysteme zu lokalisieren (z. B. in Mediendiskursen), sondern sie in ihren spezifischen sozialen Kontexten, ihren Abhängigkeiten und historischen Tradierungen zu erörtern. Dabei stellt die Komponente der Dominanz letztlich die maßgebliche Gemeinsamkeit mit anderen Formen der Ungleichbehandlung dar (Sexismus, Klassismus, Heteronormativität etc.), deren diskursive und praktische Verflechtungen mit Muslimfeindlichkeit mithilfe des AMR-Konzepts ebenfalls herausgearbeitet werden können (z. B. im Falle von sexistisch-rassistischen Zuschreibungen an muslimische Frauen).
Zweitens sensibilisiert das Konzept für den wirklichkeitsformenden Charakter von Sprache und die Diskrepanzen, die sich zwischen Bezeichnungen und empirischen Sachverhalten ergeben können. So betonen Forschende seit Jahren, dass Rassismen auf kommunikativen Konstruktionsprozessen basieren – wobei die Gruppe der Muslim*innen als einheitliches Großkollektiv erst durch sprachliche Zuschreibungen und objektivierende Wissensproduktionen erschaffen wurde (vgl. Said 1979). Konkret zeigt sich dies etwa darin, dass von antimuslimischen Attribuierungen nicht nur praktizierende Muslim*innen betroffen sind, sondern auch Personen, die etwa aufgrund von Migrationserfahrungen muslimisch markiert werden (vgl. Shooman 2014). Shooman führt dies auf eine „Ethnisierung“ der Kategorie Muslim*in zurück, die häufig synonym zu Herkunftsbezeichnungen wie Türk*in und Araber*in verwendet werde.
Dabei gerate „die muslimische Identität“ (ebd.: 65) zum Klassifikationsmerkmal, das Muslim*innen und muslimisch wahrgenommenen Personen aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds zugeschrieben wird. Zudem findet im privaten sowie öffentlichen Diskurs über ‚den‘ Islam bisweilen eine unverhältnismäßige Fokussierung auf muslimische Identitäts- bzw. Kontextbezüge statt – treffend als „Muslimisierung von Muslimen“ (Amirpur 2011: 197) bezeichnet –, die andere Persönlichkeitsmerkmale in den Hintergrund treten lassen. Da es zu den zentralen Aufgaben des vorliegenden Berichts gehört, antimuslimische Zuschreibungen innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Debattenräume aufzuspüren, bietet das Konzept des AMR auch hierfür einen passenden heuristischen Zugriff. Dabei stellt die Tatsache, dass in rassismustheoretischer Perspektive die Wissensbestände und die Praktiken ihrer Durchsetzung im Mittelpunkt stehen – und nicht die Frage nach den Motiven und Intentionen –
eine zusätzliche Möglichkeit dar, auch latente, alltägliche und unbewusst reproduzierte Formen von Muslimfeindlichkeit (in Medien, Alltagsgesprächen, politischen Diskursen etc.) der Analyse zugänglich zu machen.
Drittens erlaubt das Konzept des AMR auch zeitvergleichende Analyseperspektiven, etwa zur Frage, wie sich antimuslimische Vorstellungs- und Bildwelten historisch entwickelt haben bzw. welcher tradierter Symboliken sich heutige Diskurse in Medien, Politik und Öffentlichkeit bedienen. Zugrunde liegt dabei die erkenntnistheoretische Einsicht, dass derzeitig zirkulierende antimuslimische Wissensbestände nicht lediglich reale politische Konfliktlagen spiegeln, sondern Bestandteil eines geschichtlich gewachsenen, kulturellen Gedächtnisses sind. Verschiedene historische, literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen belegen dabei die Persistenz antimuslimischer Symboliken (vgl. z. B. Said 1979; Attia 2009; Naumann 2010; Höfert 2010), auch wenn mitunter Ambivalenzen und Diskursschwankungen – etwa die Ablösung anerkennender sowie exotisierender Orient- und Islamdiskurse durch Bedrohungsnarrative (vgl. K. Hafez 2002b: 235–240) – durchaus zu verzeichnen sind. Diese Einordnung des AMR-Begriffs ermöglicht die eingehende Auseinandersetzung mit den Wissensquellen, Akteur*innen und Produktionsweisen antimuslimischer Symboliken in gegenwärtiger, aber auch in historischer Perspektive. Wichtig ist bei alledem die Feststellung, dass der AMR-Begriff Strukturen jenseits individueller Verantwortlichkeiten beschreibt. Mit anderen Worten: Auch wer sich bestimmter Ausdrücke und Narrative des antimuslimischen Rassismus bedient, ist nicht automatisch ein*e Rassist*in im klassischen Sinne. Viel eher zeigt dies, wie etabliert und ‚normal‘ antimuslimisches Wissen ist.
Aus der Theorie des Antimuslimischen Rassismus ergeben sich diverse konzeptuelle Anknüpfungspunkte mit dem sozialpsychologisch fundierten Begriff der Islamfeindlichkeit. Während erstere insbesondere symbolisch-praktische Verflechtungen, strukturelle Ausformungen sowie historische Tradierungen fokussiert, richtet letzterer den Blick auf die subjektive Dimension islamfeindlicher Einstellungen und bietet eine Reihe von Erklärungsansätzen, um deren Ursachen besser zu verstehen. Die Theorie des AMR, in der jene subjektiven Dimensionen von Islamfeindlichkeit weniger ausgearbeitet sind, kann ihn gewinnbringend ergänzen.
Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
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