Muslimfeindlichkeit
29-08-2024
Debatte um „Ehrenmorde“
Die Ermordung von Hatun Sürücü im Jahre 2005 durch ihren Bruder hat die Debatte um sogenannte „Ehrenmorde“ und damit um die faktische oder zugeschriebene Unterdrückung der ‚muslimischen Frau‘ erneut entfacht. Der zu dieser Zeit 20 Jahre alte Bruder des Opfers gab zu Protokoll, dass er den westlichen Lebensstil seiner Schwester verachtet habe und mit dieser Tat die Ehre der Familie wiederherstellen wolle. Nach Absitzen
seiner Strafe wurde der Täter in die Türkei, das Herkunftsland seiner Eltern, abgeschoben.
Die Tat wurde medial breit aufgegriffen und im Kontext der Debatten zur Rolle ‚des Islams‘ bei Integrationsproblemen in der muslimischen Community diskutiert (vgl. Becker/El-Menouar 2012). Damit konnte an bereits zuvor skizzierte Szenarien sogenannter „Parallelgesellschaften“ angeknüpft werden, die beispielsweise in einem Leitartikel des Wochenmagazins DER SPIEGEL (2004) mit dem Titel „Allahs rechtlose Töchter“ ein Jahr zuvor thematisiert und direkt mit dem Islam verknüpft wurden:
„Unter dem Deckmantel der ‚kulturellen Vielfalt‘ haben sich Parallelwelten gebildet, in denen der Rechtsstaat teilweise außer Kraft gesetzt scheint. In diesen Nischen bewegen sich nicht nur potenzielle Terroristen und politische Extremisten jeder Couleur. Hier leidet auch eine unbekannte Zahl muslimischer Frauen, die in ihren Häusern fern der Heimat wie in Gefängnissen gehalten werden. Hinter verschlossenen Türen leben sie in Zwangsehen, nicht selten mit ungeliebten oder gar gewalttätigen Ehemännern. Verschleierung, Unterdrückung und schlimmstenfalls Ehrenmorde sind Teil dieses für viele Deutsche vollkommen unverständlichen Mikrokosmos“. (Ebd.)
Im Laufe der Zeit wurde dieses Narrativ durch verschiedene Ereignisse erneut aktiviert und reproduziert – wie beispielsweise durch die Vorfälle in der Kölner Silvesternacht 2015 (vgl. El-Menouar 2016; s. a. Unterkapitel ↗ 4.8) und weitere sogenannte ‚Ehrenmorde‘. Damit wird der Kulturalisierung sozialer Probleme weiter Vorschub geleistet. Ferner werden damit Vorstellungen eines vermeintlich homogenen und unabänderlichen Islams, der den Werten der hiesigen Gesellschaft entgegenstehe und Frauenrechte nicht nur einschränke, sondern Gewalt bis hin zu Mord an Frauen legitimiere, zementiert (vgl. Korteweg/Yurdakul 2010).
Politisch wurde dieses Narrativ vor allem durch die Parteien CDU/CSU sowie FDP aufgegriffen und als Legitimationsgrundlage für verstärkte Integrationsforderungen genutzt. Dabei wird Gewalt gegen Frauen als primär migrantisches Problem konstruiert und muslimische Frauen werden zu Opfern stilisiert (vgl. Ercan 2015).
Die Parteien Bündnis 90/Die Grünen sowie Die Linke dagegen versuchen, die Ereignisse in einen breiteren Kontext zu stellen und sogenannte „Ehrenmorde“ als eine Facette eines gesamtgesellschaftlichen Problems zu rahmen, um damit die zuvor skizzierte kulturelle Engführung aufzubrechen. Vereinzelt finden sich auch mediale
Beiträge, die dafür plädieren, die genannten Morde als Femizide zu erfassen und nicht aufgrund der zugeschriebenen oder faktischen (religiösen) Herkunft des Täters bzw. des Opfers eine Unterscheidung vorzunehmen (vgl. Lembke 2021). Es wird dafür plädiert, anzuerkennen, dass patriarchale Strukturen in verschiedensten kulturellen und nationalen Kontexten existieren sowie in sozialen Milieus unterschiedlichster religiöser Prägung vorzufinden sind (s. a. Rohe 2019). Es gehe darum, die „potenzielle Tödlichkeit patriarchaler Geschlechternormen“ anzuerkennen (Lembke 2021).
Eine Bestandsaufnahme aller „Ehrenmorde“, die sich zwischen 1996 und 2005 in Deutschland ereignet haben, und die Analyse von 78 Prozessakten kommen zu dem Ergebnis, dass diese Morde ohne die Berücksichtigung der kulturellen Hintergründe nicht erklärbar sind. Gleichzeitig weist die Untersuchung darauf hin, dass die Tötung der Intimpartnerin in allen Gesellschaften zu den häufigsten Tötungsdelikten im sozialen Nahraum gehört (vgl. Oberwittler/Kasselt 2011). Insgesamt werden jährlich etwa 12 von durchschnittlich 700 solcher Tötungsdelikte als „Ehrenmorde“ eingestuft. Dies zeigt, dass „Ehrenmorde“ aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive mit 1,7 Prozent aller Femizide ein Randphänomen darstellen und mit Blick auf den Anteil der muslimischen Bevölkerung (ca. 6 %) bei diesem Bevölkerungsteil unterdurchschnittlich häufig vorkommen (vgl. ebd.). Femizide sind demnach keineswegs auf Muslim*innen beschränkt, sondern kommen religionsübergreifend vor. Dies steht in keiner Relation zur medialen Darstellung, die „Ehrenmorde“ häufig als typisch für muslimische Familien inszeniert.
Eine internationale Analyse von 551 Tötungsdelikten, die auf Ehrvorstellungen zurückzuführen sind, zeigt zudem ein differenzierteres Bild (vgl. Leonard 2020). Anders als medial dargestellt, sind nicht allein Frauen von solchen Gewaltdelikten betroffen. Zu den Opfern gehören ebenfalls Paare, die beispielsweise unehelich zusammenleben. Zudem sind auch Männer betroffen, die in homosexuellen Beziehungen leben. Zu konstatieren ist, dass Gewaltdelikte auf Basis von Ehrvorstellungen kultur-, länder- und religionsübergreifend vorzufinden sind. Es zeigt sich keine besondere Prädisposition für Familien aus muslimisch geprägten Herkunftsländern (vgl. Bates 2020).
Ferner stellten die Forschenden fest, dass auf Ehrvorstellungen basierende Gewalt- und Tötungsdelikte charakteristischen Mustern folgen, und beschreiben diese wie folgt:
„An honor crime is an act of violence committed with the intent to prevent, conceal, or punish an act of deviance (e.g., behavioral, sexual, moral) that is perceived to bring potential harm to an individual’s or family’s reputation.” (Leonard 2020: 37)
Daher ist eine Unterscheidung von Delikten aus anderen Motiven sinnvoll – auch im Sinne der Prävention und des Opferschutzes (ebd.).
Eine repräsentative Studie zu Geschlechterrollenvorstellungen in Deutschland zeigt zudem, dass die Geschlechtergleichstellung auch in der muslimischen Bevölkerung einen fest verankerten Wert darstellt. Frauen benachteiligende Familienvorstellungen können somit nicht per se mit der Konfession oder Religiosität erklärt werden.
Patriarchale Geschlechtervorstellungen sind vornehmlich mit sozioökonomischen Faktoren verknüpft wie Bildungsgrad und Alter (vgl. Becher/El-Menouar 2013). Als Fazit ist festzuhalten, dass auf Ehrvorstellungen basierende Gewaltdelikte ein ernst zu nehmendes Problem sind und nicht bagatellisiert werden sollten – auch wenn sie im Bereich familialer Tötungsdelikte in Deutschland ein Randphänomen darstellen. Die empirischen Erkenntnisse weisen aber darauf hin, dass die medialen Debatten ein verkürztes Opfer- wie auch Täterprofil zeichnen und antimuslimische Ressentiments schüren. Der Fokus auf muslimische Communitys verkennt, dass sogenannte „Ehrenmorde“ empirisch weder religions- noch länderspezifisch vorkommen.
Die vorurteilsbehafteten Vorstellungen zu den Opfern und Tätern solcher Delikte bergen zudem die Gefahr, dass Gewaltdelikte dieser Art außerhalb muslimischer Milieus übersehen bzw. nicht angemessen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene thematisiert werden. Der einseitige Fokus auf Frauen als Opfer führt zudem dazu, dass Risiken für Männer, die ebenfalls betroffen sind, unterschätzt werden.
Insgesamt ist festzustellen, dass die öffentlichen Debatten um sogenannte ‚Ehrenmorde‘ zur Kriminalisierung der muslimischen Bevölkerung führen, indem sie soziale Probleme islamisieren und ‚den Islam‘ zu einer rückständigen, frauenverachtenden und gewaltaffinen Religion stilisieren, die angeblich einer gelingenden Integration im Wege steht. Nicht aber die Religion, sondern die so geschürten Vorbehalte stehen einem gelingenden Zusammenleben im Wege, da sie antiislamische politische Maßnahmen legitimieren und zur Ausgrenzung der muslimischen Bevölkerung führen.
Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz
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